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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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stieß ihn unter dem Tisch mit der Fußspitze an und runzelte die Stirn. Er schaute irritiert und besann sich dann. Die Kinder zogen an ihm vorbei und kreischten vor Begeisterung, als sie alle Erwachsenen geschlagen hatten.
    Gegen halb neun brachen Cornelius und Chris auf. Ich brachte Max ein halbe Stunde später in Leos Zimmer hoch, hörte mir ein weiteres Kapitel von »Harry Potter« an und schlief mal wieder ein.
    Ich hatte Max bereits angekündigt, dass ich in der Schule anrufen und seine Abwesenheit entschuldigen würde. Er hatte darauf bestanden, dass ich ihm erlaubte, nächste Woche mit seinem Schulfreund Daniel zu chatten, damit er die Hausaufgaben machen könnte und nicht später alles nachholen müsste. Ich hatte daraufhin mit Daniels Mutter gesprochen, und sie war einverstanden, dass die Kinder jeden Nachmittag übers Internet miteinander telefonieren konnten.
    Kurz nach neun weckte mich mein Handy. Max schaltete die CD aus, ich legte den Finger auf den Mund und ging ran.
    »Hör auf, meine Familie in den Dreck zu ziehen«, fauchte Hinner, dann hörte ich Gerangel und schließlich die in Tränen aufgelöste Stimme seiner Frau. »Wie kannst du so was Gemeines behaupten? Schämst du dich gar nicht? Hast du nicht genug mit deinem Bruder zu tun? Musst du Lauren und uns mit diesem Dreck bewerfen?«
    Dann sprach wieder Hinner: »Wenn ich deinen Bruder erwische, mache ich ihn kalt.«
    »Du bist stellvertretender Bürgermeister«, sagte ich hilflos, »das setzt du doch nicht aufs Spiel.« Aber ich wusste es besser.
    »Er hat Claudia Langhoff und Laurens Töchter umgebracht«, sagte Hinner ganz ruhig, »und noch mal entkommt er mir nicht.«
    Mir gingen die Nerven durch. »Mein Bruder hat niemanden umgebracht«, brüllte ich, doch er hatte schon aufgelegt.
    Max lag neben mir und schaute mich entsetzt an. Mir zitterten die Hände. Ich steckte sie unter die Bettdecke und versuchte ein beruhigendes Lächeln.
    Es misslang. Ein Felsbrocken legte sich auf meine Brust, und ich konnte kaum sprechen. Ich zog Max zu mir heran, strich über sein samtiges Kinderhaar, und dann erzählte ich ihm die ganze verdammte Geschichte. In einer Light-Version, von der ich hoffte, sie würde keine Alpträume hervorrufen. Max schwieg.
    Als ich fertig war, nuschelte mein Sohn schon im Halbschlaf: »Ich kenne Leo. Er war es nicht.«
    Mein ganzer Körper spannte sich wie die zu straff aufgezogenen Saiten eines Cellos. Ich fragte: »Was meinst du?«
    Er antwortete nicht, und so lag ich da und lauschte seinem gleichmäßigen Atem. Ich ließ ihn schlafen.
    Wir würden später reden.

47
    Ich hatte eine Stablampe meines Vaters aus dem Regal im Keller heraufgeholt und verstaute sie in der Innentasche meiner Daunenjacke.
    Mein Vater saß im Wohnzimmer und sah sich die Spätnachrichten im ZDF an. Ich setzte mich zu ihm. Ich hatte noch drei Stunden vor mir bis zum ersten Einbruch meines Lebens. Ein Gedanke, der mir Schauer über den Rücken jagte. Es waren keine wohligen.
    Unruhig stand ich auf. Mein Vater warf mir einen Blick zu und schaute dann wieder auf den Fernseher.
    »Ich gehe ins Bett«, sagte ich, und er nickte. Im Vorbeigehen beugte ich mich zu ihm und küsste ihn auf die Wange.
    »Schlaf schön«, sagte er, und ich hörte ihm an, dass er mit den Tränen kämpfte.
    »Ich liebe dich«, sagte ich.
    Ich ging die Treppe hinauf und an meinem Zimmer vorbei, darauf bedacht, dass kein Knarren der Dielen verriet, wohin ich ging. Leise öffnete ich die Tür des Schlafzimmers meiner Eltern, schaltete das Licht ein, schlich zur Kommode, zog die erste Schublade auf und Bingo: Ich zog eine lange alte Unterhose aus einem Stapel und ein langärmeliges Hemd aus einem anderen.
    Ich schloss die Schublade und schaute auf die drei Fotos, die auf der Kommode standen. Ein aktuelles Farbfoto von Max und mir, ein grobkörniges Schwarzweißfoto meiner Eltern kurz nach ihrer Hochzeit und eines von Leo mit diesem umwerfenden Lächeln, das Frauenherzen in Brand gesteckt hatte.
    Weshalb, fragte ich mich, stand noch immer ein Foto von Leo auf dieser Kommode genau gegenüber dem Bett meiner Eltern, so dass sie jeden Morgen als Erstes an diese Tragödie erinnert wurden. Noch vor ein paar Tagen hatte ich geglaubt, Eddie würde Leo auf diese Weise täglich in ihre Gegenwart zwingen, um sich selbst für ein Versagen ihrer Erziehung zu bestrafen.
    Ja, Eddie hatte sich mit diesem Foto selbst bestraft. Ebenso wie sie sich damit gestraft hatte, dass sie in diesem Haus geblieben war

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