Bruderschatten
hatte.
Obwohl Koslowski in Solthaven aufgewachsen war, war ich ihm während meiner Schulzeit nie begegnet. Das erste Mal gesehen hatte ich ihn vor rund 20 Jahren auf Schwarzweißfotos, die in den Zeitungen erschienen waren, nachdem ihn die Polizei als Kindermörder überführt und verhaftet hatte. Inzwischen war er 62. Sein Haar war ergraut, und er trug es kürzer, doch er war noch immer breitschultrig und muskulös. Nur seine massigen Züge hingen in einem seltsam erschlafften Gesicht, das mich an das eines Mastino Napoletano erinnerte. Er besaß die gleichen hängenden Lefzen und überschüssigen Hautwülste, und er verströmte die gleiche unterschwellige Gereiztheit.
»Ich hatte doch gesagt, keine Aufzeichnungen«, brach seine raue Stimme das Schweigen, als ich mein Aufnahmegerät auf den Tisch stellte. »Das war die Bedingung.«
»Okay«, sagte ich. »Aber reden wollen Sie schon noch mit mir?«
»Weshalb sitze ich wohl hier?«
Mir lag eine Entgegnung auf der Zunge, doch ich schluckte sie hinunter.
»Dann reden Sie«, sagte ich und steckte das Gerät zurück in meine Handtasche.
»Sie wissen, weshalb ich 20 Jahre gesessen habe?«
»Vor dem Haus demonstrieren trotz des Wetters etliche Dorfbewohner gegen Ihre Anwesenheit, und am Ortseingang hängt unübersehbar ein Plakat von Ihren Mitbürgern«, sagte ich. »Darauf steht: Noch 100 Meter bis zum Kinderschänder.«
»Sexualstraftäter wäre korrekt. Und korrekterweise würde ich auch noch im Knast sitzen und da auch bis ans Ende meiner Tage bleiben, wenn dieser Richter damals seine Gedanken beisammengehabt hätte.«
»Dieser Verfahrensfehler …«
»… bedeutet die Hölle für mich und meine Familie«, unterbrach er mich aufgebracht. »Als Sie eben vor dem Haus ankamen, hat dieser Mob doch selbst Sie beschimpft und bedroht. Was glauben Sie, wie das ist, wenn man das täglich erlebt?«
»Machen Sie sich um mich mal keine Gedanken. Ich kann mit der Wut der Leute schon umgehen«, sagte ich und fragte mich, wie weit er gehen würde.
Als Gerichtsreporterin kannte ich dieses Verhalten zur Genüge. Kriminelle kultivierten mitunter eine merkwürdige Logik, um sich unter allen Umständen als Opfer darzustellen. Befragte man solche Angeklagten oder Häftlinge, standen sie entweder unschuldig vor Gericht oder saßen wegen eines Justizirrtums im Gefängnis. Koslowski allerdings war der Erste, dem ich begegnete, der aufgrund eines Verfahrensfehlers freigekommen war und sich deshalb zum Opfer stilisierte.
»Seit ich vor vier Monaten aus dem Knast kam, erlebe ich das jeden Tag«, sagte er. »Inzwischen verlasse ich das Haus nicht mehr. Die Frau meines Bruders ist zu ihren Eltern gezogen, sein Sohn nach Berlin abgehauen. Ich hab meine Strafe abgesessen und bin rechtmäßig auf freiem Fuß. Trotzdem wollen die da draußen meinen Kopf.«
Er brach ab und wischte sich mit einer dramatischen Geste über die Augen, als sei er erschöpft von so viel Ungerechtigkeit.
Mein Mitgefühl für ihn hielt sich in Grenzen.
»Weshalb lassen Sie sich nicht in eine psychiatrische Einrichtung einweisen? Damit wären all Ihre Probleme zumindest für die nächste Zeit gelöst.«
»Sind Sie irre? Ich hab die ganzen Jahre hinter Gittern verbracht. Sie glauben doch nicht ernsthaft, ich lasse mich freiwillig noch mal einsperren.«
»Was wollen Sie also von mir?«, wechselte ich das Thema.
Koslowski lächelte und beugte sich vor. Das Lächeln veränderte etwas in seinem Gesicht. Es wurde weicher, beinahe sympathisch, und ich bekam eine Ahnung davon, wie der Mann die Kinder angelockt hatte. Es war ein besänftigendes »Guter-Onkel-Lächeln«, und er hatte es immer noch drauf.
»Das, was ich Ihnen erzählen werde, ist die Wahrheit.«
Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor dem Brustkorb und fixierte mich, während das Lächeln seine nikotingelben Zähne freilegte.
»Die Wahrheit?« Ich konzentrierte mich auf das Gelb seiner Zähne und bemühte mich, möglichst emotionslos und professionell zu reagieren. »Ich nehme an, Ihr Prozess brachte die Wahrheit an den Tag. Was wäre dem also noch hinzufügen?«
»Es gab da etwas«, sagte er und fummelte eine Zigarette aus dem Päckchen, das vor ihm auf dem Tisch lag.
»Könnten Sie das bitte lassen?« Ich deutete auf die Zigaretten.
»Eine?«, fragte er.
Ich zuckte mit den Achseln. In der Handtasche klingelte mein Handy.
»Sorry.«
Ich warf einen Blick aufs Display. Es war Alex. Ich stellte das Handy ab. Er konnte mir
Weitere Kostenlose Bücher