Bruderschatten
Scharnieren. Der Junge hielt die Luft an, drehte sich zur Zimmertür und lauschte so angestrengt, dass er das Gefühl hatte, seine Ohren würden gleich vom Kopf springen.
Er hörte von unten die Schritte, sie stapften wieder zurück zur Treppe.
Er warf den Rucksack aus dem Fenster und schloss es.
Die Schritte kamen die Treppe hoch.
Eilig hinkte der Junge zum Schrank, öffnete ihn, kroch hinein und zog die Tür hinter sich zu. Er kauerte sich in der hintersten Ecke zusammen, zog die Knie an und legte seine Kleidung über sich.
Die Zimmertür ging auf.
Das Licht, dachte er. Er hatte das Licht angelassen.
Tränen schossen ihm in die Augen.
Sein Onkel betrat das Zimmer. Jan lauschte den Schritten. Hinner blieb stehen. Jetzt sah er wohl unter das Bett.
Der Onkel fluchte leise.
Die Schritte näherten sich dem Schrank. Jan machte sich noch kleiner.
Hinner riss die Tür auf.
»Komm raus.«
Der Junge rührte sich nicht und hielt den Atem an.
»Ich sagte, komm raus.«
Tränen liefen über seine Wangen.
Sein Onkel riss die Bügel mit den Hosen und Blusen von der Kleiderstange und warf sie auf einen Haufen vor den Schrank.
»Du hältst dich wohl für besonders schlau, was?«
Jan spürte den Griff der Hand. Der Onkel riss die Kleider über ihm weg und warf sie ebenfalls auf den Haufen. Seine Hand kam immer näher. Eine große, feste Hand. Sie packte ihn an den Knien, ertastete die Arme, glitt über sie hinweg und fuhr hoch zu seinem Kopf, bekam ein Haarbüschel zu fassen und zerrte ihn an den Haaren aus dem Schrank.
Jan schrie auf, und als der Onkel ihn losließ, fiel er auf die Knie.
»Wo ist es?«, fragte sein Onkel und schüttelte ein dünnes Haarbüschel von der Hand.
Der Junge kniete vor ihm, weinte und wehrte sich nicht mehr.
12
Kurz vor halb sechs fuhr ich durch die Einfahrt auf den Friedhofsparkplatz, der verlassen dalag. Ich parkte unter einer Laterne, deren Lichtkegel eine helle Schneise in die dicht fallenden Flocken fräste.
Als ich aus dem Auto stieg, versank ich mit den Stiefeln bis zu den Knöcheln im frisch gefallenen Schnee. Ich schloss meine Daunenjacke bis zum Kinn und zog den Kopf zwischen die Schultern. Dann holte ich das Grabgesteck aus dem Kofferraum, schloss das Auto mit der Fernbedienung und ging entschlossen los.
Schnell legte der Schnee einen feuchten Film auf Haare und Haut, und meine Hände wurden klamm und kalt.
Nervös und aufgeregt eilte ich den schnurgeraden Hauptweg entlang und ließ die Friedhofskapelle hinter mir. Ich wünschte mir so sehr, dass Leo am Grab unserer Mutter tatsächlich auf mich wartete, um mit mir zu reden. Nur reden. Danach konnte er dorthin zurückgehen, woher auch immer er gekommen war. Wir müssten uns nie wiedersehen. Er müsste nur meine Fragen beantworten. Warum bist du wieder da? Was willst du? Warum hast du meinen Freund Charles erschossen und was weißt du über Claudias Tod?
In den ersten Wochen und Monaten nach Charles’ und Claudias Tod schlief ich mit diesen Fragen ein und wachte mit ihnen auf. Fast zwanghaft drehte ich sie in meinem Kopf hin und her, auch wenn ich längst wusste, dass es keine Antwort gab und nie eine geben würde, so lange mein Bruder auf der Flucht war.
Diese Tage waren schlimm. Doch noch weit schlimmer waren die Nächte, denn dann holten mich meine geheimsten Wünsche ein. Ich träumte von Charles und dass er lebte. Gemeinsam wanderten wir durch wundersame Insellandschaften, segelten mit seltsam konstruierten Schiffen hart am Wind oder lagen am Strand und lauschten den Wellen, während wir einander versicherten, dass wir uns liebten.
In diesen Träumen waren wir glücklich, und immer wenn ich erwachte, weinte ich, weil ich Charles so schmerzhaft vermisste. Trotzdem war ich in diesen Momenten dankbar, dass er zumindest im Traum zu mir zurückkam.
Tagsüber hatte ich Mühe, mich auf die Seminare zu konzentrieren, und die meisten Vorlesungen glitten an mir vorüber in einem Strom leerer Worte, deren Bedeutung sich mir nicht erschloss. Als ich die erste Seminararbeit mit einem »Ungenügend« zurückbekam, saß ich abends auf meinem Bett in dem kärglich eingerichteten Zimmer des Studentenwohnheims – ein Schrank, ein Doppelstockbett, zwei Schreibtische – und grübelte. Meine Mitbewohnerin Lena setzte sich zu mir, den Rücken an die Wand gelehnt. Sie zog das Nachthemd über die angewinkelten Knie und schlang die Arme darum.
»Warum gehst du nie mit uns aus?«, fragte sie. »Warum sitzt du immer allein im
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