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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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Die Anrufe schienen wichtig zu sein. Sie bat dringend um einen Rückruf.
    Ich rief in der Redaktion an und begann zu reden, bevor der Standardsatz »Sekretariat der Chefredaktion Hamburger Blatt . Sie sprechen mit Melwina Kraszeskaja. Was kann ich für Sie tun?« mir zuvorkam.
    »Julie hier. Was gibt’s, Mellie?«
    »Wolf Bauer hat angerufen und gefragt, ob du nächste Woche zur Verhandlung im Fall Kalbert kommst oder ob du jemanden anderen schickst. Maren aus der Dokumentation möchte wissen, ob du ihr einen Tag länger für die Recherche im Fall Schlinger geben kannst. Dein Zahnarzt lässt fragen, ob Max am Mittwochnachmittag eine Stunde später zur Kontrolle kommen kann, und außerdem soll ich dich von einem Leo grüßen. Er will dich um halb sechs bei deiner Mutter am Grab treffen. Der Mann hatte eine Wahnsinnsstimme. Meine Güte, wo hast du den denn her?«
    Sie lachte.
    Mein Gehirn schaltete auf Autopilot. Ich trat das Bremspedal durch. Das Auto schlitterte, aufgewirbelter Schnee stob an den Scheiben vorbei, dann griffen die Reifen wieder, als wäre nichts geschehen, und ich stand mit dem Wagen mitten auf der Straße.
    »Bist du noch da?«, fragte Mellie.
    »Was hast du gesagt?«
    Meine Hände umklammerten das Lenkrad.
    »Wolf Bauer …«, begann sie.
    Ich unterbrach sie fast ruppig: »Die letzte Nachricht.«
    »Ein Leo will dich treffen. Du musst dich beeilen, Herzchen. Wieso? Stimmt was nicht?«
    Mein Herz schlug zu schnell, und mir wurde heiß. Hinter mir hupte ein Auto. Ich ließ die Scheibe runter und winkte mit dem Arm, der Fahrer möge vorbeifahren. Als er auf meiner Höhe war, hielt er, ließ seine Scheibe herunter und fragte, ob ich Hilfe benötigte. Ich schüttelte den Kopf und winkte ihn vorbei.
    »Alles okay mit dir?«, klang Mellies Stimme an mein Ohr.
    Auf meiner Stirn bildeten sich Schweißtröpfchen. Welcher kranke Idiot erlaubte sich diesen Scherz mit mir?
    Ich räusperte mich. »Hat er sonst noch was gesagt? Vielleicht eine Nummer hinterlassen?« Meine Stimme klang immer noch belegt.
    »Nein, nur das. Ist wirklich alles in Ordnung? Du klingst so seltsam.«
    »Danke, Mellie. Schönes Wochenende. Ich melde mich Montag wieder.«
    Ich hängte sie ab, bevor sie etwas erwidern konnte.
    Für ein paar Sekunden streckte ich den Kopf aus dem Fenster in die Kälte.
    Grüße von Leo? Ein Treffen am Grab unserer Mutter? Lächerlich. Jemand machte sich über mich lustig oder wollte, dass ich panisch wurde. Verdammt. Er hätte es fast geschafft.
    Tief atmete ich die kalte Luft ein. Danach ging es mir besser, und ich hörte die dritte Nachricht ab. Sie war von Alex. Er würde erst gegen sechs bei meinem Vater sein, weil er noch kurzfristig zu einem Termin musste. Ich sollte mir keine Sorgen machen. Max sei bei ihm, sie würden gleich beide einen XXL-Burger essen und alles sei gut.
    Ich sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war kurz vor fünf. Leo wollte mich sehen? Auf einmal? Einfach so? Undenkbar.
    Ich startete den Motor.
    Vor anderthalb Jahren hatte der erste Schlaganfall den linken Mundwinkel meiner Mutter schief nach unten gezogen. Fremde hatten es kaum bemerkt, sie jedoch hatte es so eingeschüchtert, dass sie fortan vermied, das Haus zu verlassen, wenn sie nicht unbedingt musste. Ansonsten erholte sie sich nach einem mehrwöchigen Reha-Aufenthalt langsam wieder.
    Glücklich über ihre fortschreitende Genesung plante mein Vater für den Sommer einen vierwöchigen Urlaub in Italien. Er freute sich wie ein Kind darauf. Im Frühjahr jedoch riss Eddies zweiter Schlaganfall ihn aus seinen Träumen von lauen Abenden am Tiber in Rom und von romantischen Fahrten durch verwunschene Zypressenalleen in der Toskana. Seither saß meine Mutter trotz eines neuerlichen Aufenthaltes in einer Rehabilitationsklinik im Rollstuhl, litt unter Gedächtnisstörungen, ernstzunehmenden Sprachstörungen und wieder unter Depressionen, gegen die sie schon nach Leos Verschwinden jahrelang zu kämpfen hatte.
    Es zerschnitt mir jedes Mal das Herz, wenn ich den Verfall meiner Mutter bei meinen Besuchen erlebte, doch noch mehr schmerzte mich das Leid meines Vaters. Er, der Mediziner, stand dem Leiden seiner Frau machtlos gegenüber, denn meine Mutter wollte nicht mehr leben. In den immer seltener werdenden Momenten, in denen sie noch ansprechbar war, wiederholte sie den Satz »Ich will nicht mehr« so häufig, dass er mir wie ein Mantra vorkam.
    Es war nicht zuletzt dieser Satz, der meinen Vater und mich zwang, uns auf das

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