Bruderschatten
Verbrechens zu sein. Er dachte an die arme Mathilda in »Leon der Profi« und an Mark Sway in »Der Klient«. Sie waren so alt wie er. Sie hatten Ähnliches erlebt. Sie schwebten in Lebensgefahr, weil Verbrecher sie umbringen wollten. Beide hatten nur überlebt, weil sie Erwachsene gefunden hatten, die ihnen halfen. Er war sich sicher, dass Henny keine gute Erwachsene war. Sie schoss auf Kinder und aß sie.
Die Übelkeit bohrte in seinem Magen.
»Was ist passiert?«, wiederholte die Frau.
Er drehte den Kopf zur Seite und sah nach unten. Die Übelkeit arbeitete wie ein eifriger Maulwurf in ihm, der zielsicher seine Gänge anlegte. Er faltete die Hände, bis seine Knöchel weiß hervortraten.
»Wovor hast du Angst?«, bohrte die Frau.
Jan starrte weiter auf den Boden, wo das Eis kleine Pfützen hinterlassen hatte. Es wäre gut, wenn ein Mensch auch einfach schmelzen und sich so davonstehlen könnte.
Die Frau wiederholte die Frage.
Weshalb musste sie immer alles wiederholen? Er mochte das nicht.
»Ich werde jetzt bei dir zu Hause anrufen«, sagte sie, als er nicht antwortete. »Deine Mutter wird sich längst Sorgen machen.«
Heftig schüttelte er den Kopf.
»Jemand muss dich hier abholen.«
Er sprang auf und krallte seine Hand in ihren Arm.
Sein Mund arbeitete, die Zunge kaute an dem Wort.
»Nein«, stieß er endlich hervor. Er konnte sich kaum noch konzentrieren.
»Hey!«
Erschrocken machte Henny einen Schritt zurück und rieb die Stelle, an der er sie gekniffen hatte.
Jan fiel zurück auf den Stuhl. Er fing ihren Blick auf. Sie beobachtete ihn so ausdruckslos und konzentriert wie einen Hasen, auf den sie gleich anlegen würde. Seine Schultern fielen nach vorn, und er senkte den Kopf. Unter ihrem Blick wurde er ganz klein. Der Maulwurf wühlte in seinem Magen und katapultierte den Inhalt nach oben. Es saß schon in der Speiseröhre. Er schluckte. Schluckte noch einmal und stemmte sich gegen das, was die Speiseröhre hochschoss. Es half nichts.
Er riss den Mund auf. Sein Mageninhalt ergoss sich in einem Schwall neben den Stuhl auf den Fußboden.
Die Frau war zu ihm gesprungen, hielt ihm den Kopf und half ihm, als er sich ein zweites Mal übergab.
»Du musst dringend ins Bett«, sagte sie. »Wenn du Pech hast, hast du eine Gehirnerschütterung.«
Sie schnappte sich ein fleckiges Geschirrtuch, das auf der Spüle lag, hielt es unter den Wasserhahn und ließ kaltes Wasser drüber laufen.
»Hier.«
Sie reichte ihm das Tuch.
»Wisch dir den Mund und die Hände sauber.«
Sie drehte sich um und verließ die Küche.
Der Lappen roch muffig, und er versuchte nicht zu atmen, als er sich den Mund abwischte.
Kurz darauf kam sie mit einem Eimer zurück. Sie füllte ihn mit Wasser, streifte sich gelbe Gummihandschuhe über, die sie aus dem Schrank unter der Spüle hervorholte, und wischte das Erbrochene auf.
Die Frau war ihm unheimlich. Dennoch hätte er sich gern entschuldigt. Doch es hatte jetzt keinen Sinn, das Sprechen noch einmal zu versuchen. Die Müdigkeit umgab ihn längst wie ein weites dunkles Meer.
»Die Sachen sind von meinem Sohn. Noch von früher«, sagte sie, nachdem sie den Eimer geleert und weggetragen hatte. »Deine waren völlig kaputt, als ich dich vor der Treppe aufgelesen habe. Ich dachte, du hättest dir das Genick gebrochen.«
Henny ging zum Kühlschrank und holte eine blaue Gummipalette mit Eiswürfeln aus dem Gefrierfach. Sie drehte die Palette um und klopfte auf den Rand der Spüle. Scheppernd fiel das Eis hinein.
»Wieso wolltest du auf mich schießen?«, fragte sie, als sie das Eis in ein Geschirrtuch wickelte.
Jan starrte auf die Hände der Frau und zuckte mit den Achseln.
Sie reichte ihm das Geschirrtuch, und er presste es hinten auf den Kopf. Alles tat ihm weh, und er war so müde.
Der Junge kippte nach vorn, schob die Arme auf dem Tisch zusammen und bettete seinen Kopf darauf. Schlafen war fast so gut wie Davonschmelzen, dachte er, bevor ihm die Augen zufielen und ein gnädiger Schlaf ihn aus der Übelkeit und dem Schmerz hinaustrug.
10
Ich war auf dem Rückweg nach Solthaven, und Koslowskis Stimme klang mir in den Ohren, als säße ich ihm immer noch gegenüber. Ich wollte sie nicht hören, setzte mein Headset auf und wählte die Mailbox meines iPhones an. Ich hatte drei Nachrichten. Zwei hatte Cornelius’ Assistentin hinterlassen. Sie nahm in meiner Abwesenheit die Anrufe entgegen, leitete sie je nach Dringlichkeit weiter oder klebte mir Post-its auf den Bildschirm.
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