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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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hier nicht als Journalistin, die neugierig in den intimsten Details von Menschen wühlt. Ich bin hier als Leos Schwester, weil ich endlich begreifen will, was damals passiert ist. Ich bin hier …«
    Er unterbrach mich.
    »Es waren die anderen.« Er zögerte. »Ein paar Ältere. Blöde Kerle. Aufschneider, Gesindel. Sie waren zu sechst. Sie haben eine Zeitlang alles kontrolliert, bis sie dann endlich getrennt verlegt wurden. Sie waren ganz wild auf Leo. Du weißt ja, wie er aussah.«
    »Und du?«
    Sein Blick zeigte keine Regung, und er zuckte mit den Achseln. »Konrad. Haben sie dich auch vergewaltigt?«
    »Nein«, sagte er, doch ich sah es an den kaum merklich herabfallenden Schultern, an dem Blick, der über mein Gesicht glitt und sich dann verlor.
    »Sprich mit mir. Bitte.«
    Er sah mich wieder an. »Das mussten sie gar nicht. Ich hab es freiwillig über mich ergehen lassen. Ich hatte Angst, Julie. Wir waren schmächtige 16-Jährige, sie waren 18-jährige bullige durchtrainierte Arschlöcher. Die stemmten da Hanteln und Gewichte und hauten 150 Liegestütze runter, als sei es gar nichts. Sie haben Leo zusammengeschlagen. Mehrmals. Ein Mal hatte er eine Gehirnerschütterung. Er hat keinen von ihnen verpfiffen. Trotzdem haben sie ihn sich immer wieder gegriffen. Er hat nie aufgegeben, aber es waren zu viele gegen einen.«
    »Haben sie dich auch geschlagen?«
    »Nein. Das brauchten sie nicht.«
    »Hast du jemals gesehen, dass Leo eine Frau misshandelt hat?«
    Konrad schüttelte den Kopf. »Nein. Und auch wenn du es nicht gefragt hast, ich hab auch nie eine Frau misshandelt.«
    »Ich brauche deine Hilfe, Konrad. Ich will wissen, was vor zwanzig Jahren passiert ist.«
    »Aber das wissen wir doch.«
    »Nein«, sagte ich und betrachtete ihn im Funzellicht. »Ich weiß es nicht. Jedenfalls nicht alles. Vor allem kenne ich nicht die Wahrheit.«
    »Für die Wahrheit kann ich mir nichts kaufen.«
    »Trotzdem interessiert sie dich vielleicht. Du wolltest doch wissen, was so wichtig ist, dass du das Geburtstagsfest deines Sohnes vorzeitig verlassen musstest?«
    Er sah mich fragend an und nickte.
    »Ich habe gestern Koslowski interviewt. Er erzählte mir, dass er deine Schwester nicht umgebracht hat.«
    »Koslowski«, sagte Konrad und schüttelte den Kopf. »Und du glaubst diesem Stück Dreck?«
    Ich nickte. »Er hatte keinen Grund zu lügen. Er hat sich heute Nacht umgebracht.«
    »Weiß ich auch«, sagte Konrad.
    Ich sprach weiter. »Koslowski behauptete, es gebe einen Nachahmungstäter, und er glaubte, es wäre Leo. Aber Leo hatte keinen Grund, Claudia zu vergewaltigen und umzubringen. Und auch wenn Leo selbst vergewaltigt wurde, so wird mir doch niemand einreden können, dass er deiner Schwester so etwas angetan hat. Mit anderen Worten, Konrad, wir müssen rauskriegen, von wem und warum Claudia ermordet wurde.«
    »Ich sag es nur ungern, aber ich hab eine Frau und einen Sohn. Ich habe mit dieser Geschichte abgeschlossen. Nichts wird Claudia wieder lebendig machen, und so merkwürdig es für dich vielleicht klingt, es ist mir inzwischen egal, wer sie vergewaltigt und umgebracht hat.«
    »Ich habe auch einen Sohn«, erwiderte ich.
    »Ich weiß«, sagte er. »Aber hast du dich nicht manchmal gefragt, warum Leo zuletzt kaum noch Zeit für Claudia hatte?«
    »Klar hatte er weniger Zeit als vorher«, erwiderte ich und sah Konrad an. »Du weißt, dass er immer Journalist werden wollte und wie sehr er litt, dass er nicht studieren durfte. Und du weißt auch, wie glücklich er war, dass er abends nach der Arbeit diesen Aushilfsjob bei der Zeitung gefunden hatte.«
    »Botengänge. Kopieren«, sagte Konrad und schüttelte den Kopf.
    »Er suchte nach einem Weg, doch noch Journalist zu werden«, sagte ich. »Du warst doch genauso unglücklich wie er. Wenn die Mauer nicht gefallen wäre, wärst du auch immer noch Maurer und hättest nicht studieren dürfen.« Ich schwieg einen Moment. »Leo und Claudia waren glücklich.«
    »Aha.«
    »Ja, sie waren doch immer zusammen …«
    Ich brach ab und dachte nach. In Koslowksis Akten stand, Leo hätte sich von Claudia getrennt. Aber das war nur die Version, die Claudia ihren Eltern erzählt hatte und die dann alle in den Vernehmungen wiederholt hatten.
    Konrad beobachtete mich. Es fiel mir nicht leicht, mich daran zu erinnern, was in den Tagen vor dem Mord geschehen war. Charles und ich gingen fast jeden Nachmittag ins Schwimmbad, und Leo traf sich in seiner knappen Freizeit mit Claudia. Jedenfalls

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