Bruderschatten
dann. »Ich rufe die Kollegen an. Jemand holt den Zettel ab, und ich passe weiter auf Sie auf.«
Er wandte sich um und ging zu seinem Auto zurück.
42
Kaum saß ich im Auto, bekam ich einen Anruf. Es war Hauptkommissar Carsten Unruh. Ich sollte auf die Damentoilette von McDonalds kommen. Jetzt sofort und allein. Er legte auf, ohne meine Antwort abzuwarten.
Mein Herz klopfte an Stellen, an denen kein Herz je geschlagen hat. Es hämmerte in meinen Muskeln, schlug in meinen Sehnen, pulsierte in meinen Nerven. Hektisch sprang ich aus dem Wagen und sah zu Gregor Patzigs Auto. Er stieg aus und kam mir entgegen.
»Toilette!«, rief ich ihm entgegen. Er nickte und ging zurück, während ich zur Toilette rannte.
Als ich das Foyer erreichte, schlug im Nebenraum eine Tür. Carsten Unruh rief leise meinen Namen. Im Toilettenraum mischte sich der scharfe Geruch von Desinfektionsmitteln mit dem eines künstlichen Duftsprays, das nach Hyazinthen roch. Schwer, süß, unangenehm. Unruh winkte mir aus der letzten Kabine zu.
»Woher wissen Sie, dass ich hier bin?«, fragte ich, als ich die Kabine betrat und er die Tür hinter mir schloss. Es war eng, und er stand dicht vor mir. Ich presste den Rücken gegen die Kabinentür, um eine größere Distanz zwischen uns zu schaffen.
»Woher weiß ich es wohl? Aus erster Hand natürlich«, sagte er mürrisch, und ich dachte daran, dass Carsten Unruh Gregor Patzig angewiesen hatte, mich nicht aus den Augen zu lassen.
»Was wollen Sie? Mir Angst machen?«, fragte ich. »Das versuchen schon ganz andere Leute. Und seien Sie versichert, es ist vergeblich.«
»Reden Sie leise, und quatschen Sie nicht so einen Mist zusammen. Ich versuche schon eine ganze Weile, Sie irgendwo abzupassen, also hören Sie mir jetzt genau zu.«
Er sprach mit gedämpfter Stimme. »Ihr Bruder hat vermutlich weder Vera und Nora Schnitter noch Margo Swann umgebracht.«
Jetzt hatte er meine ganze Aufmerksamkeit.
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, fuhr er fort. »Kortner und sämtliche Kollegen auf dem Solthavener Revier gehen berechtigterweise von seiner Schuld aus. Es läuft eine Fahndung nach ihm. Wir haben Fingerabdrücke in Heineckens Scheune gefunden, und sie sind identisch mit denen Ihres Bruder, die wir aus der Akte haben, als er mit 16 verhaftet wurde.«
»Trotzdem wissen Sie alles besser als Ihre Kollegen und sind der Einzige, der alles durchschaut.«
Unruh kniff die Augen zusammen. »Frau Lambert, jetzt lassen wir mal die Spielereien. Ich meine, dass hier etwas anderes vor sich geht.«
»Nämlich?«
»Ich meine, dass hier jemand versucht, Ihrem Bruder mehrere Morde anzuhängen.«
»Das ist ja die bahnbrechendste Erkenntnis, von der ich je gehört habe.«
Auf Unruhs Stirn schwoll eine Ader zwischen den Brauen bis zum Haaransatz, an seinem Hals traten die Sehnen hervor. »Ich setze hier meinen Job, meine Reputation und wahrscheinlich sogar meine Pension aufs Spiel, also schieben Sie sich Ihre Ironie gefälligst in den Hintern.« Er atmete mit geöffnetem Mund aus – einen langen rauen Atemzug.
Von draußen wurde die Foyertür geöffnet.
»Frau Lambert?«, ertönte Gregor Patzigs besorgte Stimme.
Unruh biss die Zähne aufeinander und legte den Finger auf die Lippen. Wir sahen einander an, als ich zurückrief: »Schon gut, ich hab mich übergeben! Gleich geht’s wieder!«
Unruh entspannte sich sichtlich.
»Kann ich was tun?«, fragte Gregor Patzig. »Irgendwie helfen?«
»Nein, nein, danke. Aber sehr liebenswürdig.«
»Meine Frau ist auch schwanger. Brauchen Sie vielleicht Wasser? Soll ich ein Glas holen?«
»Nein!«, rief ich. »Wirklich. Alles in Ordnung. Ich brauche noch einen Moment. Bitte. Ich komme gleich!«
Die Tür schloss sich wieder.
Unruh holte eine eckige Lesebrille aus seiner Brusttasche, setzte sie auf und zog einen Zettel in einer Folie aus einer anderen Jackentasche.
Er legte mir die Hand auf den Mund. »Pst.«
Empört, dass er bei jeder Gelegenheit bereit war, mich zu unterschätzen, griff ich nach der Hand und zog sie weg.
»Wer will meinem Bruder Ihrer Meinung nach etwas anhängen?«, flüsterte ich gereizt.
»Das will ich herausbekommen«, sagte er dicht an meinem Ohr. »Meiner Überzeugung nach hat Ihr Bruder Nora Schnitter am Freitag nicht ermordet, auch wenn Christa Heinecken das ausgesagt hat.«
Ich umklammerte seine Hand. Sie war groß, warm und kräftig, und sie fühlte sich an, als könnte man ihr vertrauen.
Er zog sie weg. Draußen auf dem Gang klapperte
Weitere Kostenlose Bücher