Bruderschatten
beiden toten Frauen. Und ich habe Lauren eingeschärft, dass sie das unbedingt für sich behalten muss.«
Das glaubte ich ihm aufs Wort.
»An dem Fall Koslowski-Langhoff«, fuhr er fort, »war einiges merkwürdig, als ich die Akten studierte. An dem Fall Charles Swann war ebenfalls einiges merkwürdig. Und auch deshalb würde ich gern mit Ihrem Bruder reden. Richten Sie ihm das aus.«
»Weshalb reden Sie nicht mit Ihrem Kollegen Kortner?« Ich sah ihm direkt in die Augen. Der Sitz der Seele. Manche Menschen reagierten meiner Erfahrung nach nur dort, wenn sie logen. Sie zogen einen Vorhang davor.
Seine Augen reagierten nicht, und er antwortete mir auch nicht.
»Sie müssen jetzt gehen. Sonst kommt Patzig und sucht jede einzelne Klozelle nach Ihnen ab«, sagte er. »Und sagen Sie Ihrem Bruder, dass ich ihn sprechen muss.«
»Ich habe Leo nicht gesehen«, sagte ich. »Egal, was Sie mir unterstellen.«
»Dann sagen Sie es ihm, wenn Sie ihn sehen.«
Er griff um mich herum und öffnete die Tür hinter meinem Rücken, damit ich hinausgehen konnte.
Gregor Patzig lehnte an meinem Wagen, die Hände tief in den Taschen vergraben, das jungenhafte Gesicht bis zur Nase im Jackenkragen versenkt.
»Sie müssen auf sich aufpassen.« Er hielt mir die Wagentür auf, nachdem ich sie mit der Fernbedienung entriegelt hatte. »Meiner Frau würde ich nicht gestatten, so durch die Gegend zu kutschieren. Sie haben gestern fast Ihr Kind verloren.«
Ich vermutete, er wusste es von Kortner, doch ich fragte nicht weiter nach.
»Ich werde Sie nicht los, oder?«, fragte ich stattdessen.
Er schüttelte den Kopf.
»Wie alt sind Sie eigentlich?« Ich saß im Auto und schnallte mich an.
»22.« Er warf die Tür mit einem lauten Knall zu. Das Auto vibrierte. Glaubte er, mein Audi sei ein Panzer oder was?
Ich fuhr vom Parkplatz.
Mein Handy summte. Ich hatte eine SMS erhalten: »Sie beobachten dich. Pass auf dich auf.«
Ich schnappte nach Luft. Kein Gruß, keine Nummer, Absender unbekannt.
Als wüsste ich nicht selbst, dass ich es nicht nur mit Gregor Patzig zu tun hatte. Immerhin wusste ich aber auch, dass Gregor für Carsten Unruh und für Kortner arbeitete und dass deren Interessen nicht übereinstimmten, auch wenn Gregor selbst das nicht zu wissen schien.
43
Während ich zu meinem Vater zurückfuhr, versuchte ich aufs Neue, Klarheit in meine Gedanken zu bringen.
Nach dem, was ich wusste, tauchte Leo das erste Mal am Tag von Eddies Beerdigung bei meinem Vater auf. Möglicherweise war er schon länger in der Stadt. Jemand hatte also seinen Aufenthaltsort gekannt und ihn über Eddies dritten Schlaganfall informiert. Mein Vater leugnete, es gewesen zu sein, Konrad ebenso. Wer aber war es dann?
Und wer war Carsten Unruh? Zweifellos war er ein Vernehmungsprofi und – wenn er wollte – ein Muster an Undurchschaubarkeit und Selbstbeherrschung. Darin glich er einem Pokerspieler, und das machte ihn gefährlich. Nicht zuletzt auch deshalb hatte ich ihn nicht über Peter Bartels und das Tonband informiert. Ebenso wenig wie über das, was Kortner mir auf dem Friedhof erzählt hatte. Denn auch Kortner war gefährlich, und wie mir schien, versuchte hier gerade einer den anderen auszutricksen. Carsten Unruh hatte ohne Kortners Wissen mit mir gesprochen. Er glaubte bislang nicht, dass Leo etwas mit den Morden an den Schnitter-Zwillingen und Margo zu tun hatte. Doch was würde es für seine Ermittlungen bedeuten, wenn er eines Tages herausfände, dass Claudia Langhoff keines von Koslowskis Opfern war? Und was bezweckte Kortner damit, mir zu sagen, dass meine Mutter Charles umgebracht hatte? Was bezweckte Koslowski mit seiner Beichte, dass er Claudia nicht ermordet hatte?
Je länger ich nachdachte, desto klarer wurde mir, um was es jedem der drei Männer ging: Jeder wollte, dass Leo aus seinem Versteck kam, und ich war nur ihr Köder. Sie gingen davon aus, dass ich wusste, wo Leo war, und dass ich es die ganze Zeit über gewusst hatte.
Es war ein unangenehmer Gedanke. Denn falls Kortner oder Unruh meinem Bruder nur einen Mord nachweisen konnten, dann würde auch ich schwer belastet wegen Vertuschung einer Straftat und vielleicht sogar wegen Beihilfe zum Mord sein.
Kortner wusste, dass Koslowski nicht Claudias Mörder war. Ihm war bekannt, dass ihr Mörder Koslowskis Vorgehensweise nur kopiert hatte. Die war aber außer dem Täter nur den damals ermittelnden Beamten bekannt, weil es nie veröffentlicht wurde. Kortner suchte folglich nach einem
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