Bruderschatten
eine Tür. Schritte näherten sich und gingen vorbei.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Achseln. »Ich dachte mir schon, dass Sie das fragen.« Er reichte mir den Zettel in der Folie.
Eine ordentliche Kinderschrift. »Bitte sagen Sie niemandem was. Es war mein Onkel.«
Ich sah Unruh fragend an.
»Lauren Heineckens Junge hat ein schweres Trauma und kann nicht sprechen. Er hat mir diese Notiz heimlich in die Hand gedrückt, als er gestern nach seiner Befragung ging.«
»Wie haben Sie ihn dann befragt?«
»Hände? Zeichnungen? Schriftlich?«
Ich las die Worte noch einmal und ließ sie mir durch den Kopf gehen.
»Er bezichtigt seinen Onkel? Wie kommt er darauf? Hat er ein Problem mit ihm? Will er ihm eins auswischen?«
»Das habe ich mich auch gefragt«, sagte Unruh. »Ich glaube aber, der Junge schreibt die Wahrheit. Er fuhr von der Schule aus zu seiner Großmutter. Von dort ist er dann weggelaufen. Er hat sich bei Henny Langhoff versteckt. Sein Onkel hat ihn später dort abgeholt und nach Hause gebracht. Ich habe heute mit dieser Langhoff gesprochen. Sie sagte, etwas war komisch zwischen dem Jungen und dem Onkel. Sie glaubt, der Junge hatte Angst vor ihm.«
»Er kam gestern noch einmal zu mir zurück, nachdem ich ihn und Lauren bei Hinner abgesetzt hatte. Er schüttelte wie aufgezogen den Kopf, bis Hinner zum Auto kam und ihn einfing.« Ich überlegte. Ja, mein Unterbewusstsein hatte mir die richtigen Worte eingegeben. Hinner hatte ihn eingefangen.
»Jan war dabei, als Nora Schnitter erschossen wurde«, sagte Carsten Unruh. »Das wissen wir. Das bestätigte auch Christa Heinecken, und in dem Fall glaube ich ihr.«
»Halten Sie es für möglich, dass Hinner Nora erschossen hat?«, fragte ich ins Blaue.
»Kann sein, kann auch nicht sein«, sagte er. »Noch hat er ein Alibi. Das wird auch nicht leicht zu erschüttern sein. Wir haben zwar auch seine Fingerabdrücke im Haus und in der Scheune gefunden. Aber das ist nicht verwunderlich, denn er bringt seiner Mutter jeden Freitagmittag die Wochenendeinkäufe nach Hause. So fand er angeblich seine Mutter, die an einen Stuhl gefesselt war, und die Leiche von Nora Schnitter.«
»Und gibt es noch andere Zeugen, dass er nicht schon früher zu Christa gefahren ist?«
»Seine Frau und seine Sekretärin im Rathaus. Ihre zeitlichen Angaben stimmen mit den Angaben von Christa Heinecken überein. Demnach kam Hinner erst nach der Tat auf dem Hof an.«
»Vielleicht lügt Jan ja doch.«
Unruh verzog das Gesicht. Seine schlaffen Wangen spannten sich.
»Wir haben ein Foto Ihres Bruders mit einem Computerprogramm gealtert, wie Sie wissen. Der Junge hat es unter mehreren anderen identifiziert. Ihr Bruder war also mit Sicherheit am Tatort, sonst hätte Jan ihn nicht erkannt. Er hat also Ihren Bruder als Täter identifiziert und danach klammheimlich seinen Onkel belastet. Natürlich lügt er in einem Fall.« Und dann stellte er die ewige Kardinalfrage: »Wo ist Ihr Bruder?«
Ich antwortete, was ich immer antwortete: »Ich weiß es nicht.«
»Und wenn Sie es wüssten?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das dachte ich mir.«
»Weshalb fragen Sie dann?«
»Weil ich mit ihm reden muss.«
»Worüber?«
Er schüttelte wieder den Kopf.
»Worüber?«, hakte ich nach.
»Können Sie sich vorstellen, dass Leo der Vater von Lauren Heineckens Zwillingstöchtern ist?«, fragte er fast bedächtig.
Ein Lachen flog mir die Kehle hoch. Ich schickte es zurück, bevor es die Stimmbänder erreichte. »Das ist doch völlig absurd. Ich habe Lauren Heinecken und ihren Sohn Jan gestern mit dem Auto mitgenommen. Sie behauptet felsenfest, Jan hätte Leo als Täter identifiziert. Sie glaubt das, den Eindruck hatte ich jedenfalls. Aber wieso sollte sie das glauben, wenn Leo der Vater ihrer Töchter ist? Dann hätte er ja seine eigene Tochter ermordet? Und wieso sollte Jan ihn identifizieren, wenn er es nicht war?«
»Weil er vor jemandem Angst hat? Weil er es vor seiner Mutter verheimlicht? Weil er nicht sprechen kann? Weil er seine Mutter da nicht mit reinziehen will? Weil er weiß, dass sie zu schwach ist? Suchen Sie es sich aus.«
»So denkt doch kein Zehnjähriger.«
»Er ist ein cleveres Kerlchen, und er scheint sich in manchem als Oberhaupt der dreiköpfigen Familie zu fühlen. Jedenfalls ist er wesentlich reifer, als sein Alter nahelegt.«
»Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass mein Bruder der Vater der Zwillinge sein könnte?«, fragte ich.
»Nora Schnitter
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