Brüchige Siege
gut wie vorgenommen – dir die Wahrheit über mich zu sagen. Die
Frankenstein -Trilogie erhellt nämlich recht gut die Parallelen und Unterschiede in Einstellung und Verhalten zwischen
Karloffs Darstellung eines Monsters und meiner tagtäglichen
Karikatur eines Menschen. Als wir anstanden, hätte ich beinah
die Nerven verloren; ich wollte dir vom Besuch abraten, doch
zum Glück warst du hartnäckig. Im Lichtspieltheater habe ich dann die Nerven verloren, aber auch da hast du dich
durchgesetzt. Sag mal – haben diese Filme irgendwie dazu
beigetragen, daß du so neugierig wurdest?«
Ich zuckte wieder die Achseln.
Aber Jumbo kam der Wahrheit näher. Seit ich im Roxy
gewesen war, hatte ich alle meine vagen Zweifel und Ängste,
was Jumbo anbetraf, zu einem dicken zähen Verdacht quellen
lassen.
Er schritt auf und ab. »Diese Spielfilme verfälschen die
Begebenheiten, die zutreffender in den Briefen von Robert
Walton geschildert sind.« Er hob die Briefe vom Boden auf
und ging weiter auf und ab. »Die Welt kennt diese
Begebenheiten allerdings aus dem ersten Roman von Mary
Wollstonecraft Shelley, der Frau des britischen Dichters Percy Bysshe Shelley. Daniel, hast du jemals den Text gelesen, der
als Mary Shelleys Roman Frankenstein veröffentlicht wurde?«
Mir war, als hörte ich mehrere Nachrichtensender gleichzeitig: Ich war überfordert. »Hast du?« Zum ersten Mal, seit er zurück war, machte er mir angst.
Ich nickte.
»Ausgezeichnet. Du hast also begriffen, daß ich der Unhold
bin, dessen Werdegang solche unbesonnene, ja
verleumderische Behandlung durch den ersten Karloff-Film
erfährt.« Er wedelte kurz mit den Briefen. »Der Unmensch,
dessen wahre Geschichte sich hier offenbart. Hast du diese
Briefe oder nur mein Tagebuch gelesen?«
Ich wies mit dem Kinn auf das Tagebuch drüben auf seinem
Bett. Wie sollte ich ihm klarmachen, daß ich die vier ersten
Briefe von Walton nur überflogen und mich dann gleich über
das Tagebuch hergemacht hatte?
»Bevor du Fragen stellst, lies diese Briefe«, sagte Jumbo.
»Alle.« Er legte sie auf mein Pult, auf die Kladde, die ich beim ersten Ächzen der Stiegen zugeklappt hatte.
Ich nahm die Briefe.
Jumbo ging zum Bücherregal und nahm ein Buch mit
fleckigem Einband heraus. »Oder lies noch einmal das hier.
Der Text entspricht mehr oder weniger dem von Waltons
Briefen. Wo er abweicht, geben die Briefe die Vorkommnisse
genauer wieder.« Er gab mir das Buch und nahm die Briefe
wieder an sich. »Lies einfach das Buch. Die Druckschrift liest sich leichter als Waltons Handschrift.«
Jumbo band die Briefe wieder zusammen und legte sie samt
Tagebuch in den Lederbeutel. Er schlang den Perlenknoten,
verstaute den Beutel im Kajak, pfropfte die Matte ins Sitzloch und schob alles wieder unter sein Bett. Dann verließ er
kurzerhand das Zimmer.
29
KLAMMHEIMLICH EIN BUCH LESEN IST weißgott verlockender
als es verordnet zu bekommen. Oliver Twist als Schullektüre langweilt dich bis zum Sabbern. Die gleichen Seiten als
Kostprobe zwischen den Regalen der Bibliothek putschen dich
auf und befördern dich schneller als ein D-Zug in eine andere
Welt. Ich hatte Jumbos Tagebuch mit Genuß gelesen. Die
Frage, wie gerne ich Frankenstein noch einmal las, und das auf Jumbos ausdrücklichen Befehl, war müßig. Ich saß an meinem
Pult und war drauf und dran, das dicke kleine Buch aus dem
Fenster zu schmeißen.
Doch ich fing an, es zu lesen, und rannte mir sofort den Kopf
ein an diesem Bla-bla-bla, bei dem ich auf der High-School
schon aus den Schuhen gekippt bin – Sachen wie ›verströmt einen beständigen Glanz‹, ›kannst Du dennoch die
unschätzbare Wohltat nicht abstreiten, die ich der ganzen
Menschheit bis ins letzte Glied erwiese‹, ›meine glücklichen Jahre unter deiner sanften Obhut‹, und so weiter und so fort.
Zum Glück fuhren die Schreiber – Mary Shelley, Robert
Walton, wer auch immer – endlich die Kanonen und
Dampforgeln auf, adrenalinproduzierenden Stoff über
Walfischer, Rußland, Hundeschlitten und ein Wesen von
gigantischer Statur draußen auf dem Eis – Passagen, die mich natürlich an Jumbos Tagebuch erinnerten und auch an seinen
hochtrabenden Stil, aber das alles hielt mich wenigstens bei der Stange.
Schon bald hatte ich den Punkt erreicht, an dem Viktor
Frankenstein sich entschließt, sein Geschöpf acht Fuß hoch und entsprechend breit zu machen. Es wurde Abend darüber.
Jumbo brachte mir eine Schüssel mit
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