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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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gut wie vorgenommen – dir die Wahrheit über mich zu sagen. Die
    Frankenstein -Trilogie erhellt nämlich recht gut die Parallelen und Unterschiede in Einstellung und Verhalten zwischen
    Karloffs Darstellung eines Monsters und meiner tagtäglichen
    Karikatur eines Menschen. Als wir anstanden, hätte ich beinah
    die Nerven verloren; ich wollte dir vom Besuch abraten, doch
    zum Glück warst du hartnäckig. Im Lichtspieltheater habe ich dann die Nerven verloren, aber auch da hast du dich
    durchgesetzt. Sag mal – haben diese Filme irgendwie dazu
    beigetragen, daß du so neugierig wurdest?«
    Ich zuckte wieder die Achseln.
    Aber Jumbo kam der Wahrheit näher. Seit ich im Roxy
    gewesen war, hatte ich alle meine vagen Zweifel und Ängste,
    was Jumbo anbetraf, zu einem dicken zähen Verdacht quellen
    lassen.
    Er schritt auf und ab. »Diese Spielfilme verfälschen die
    Begebenheiten, die zutreffender in den Briefen von Robert
    Walton geschildert sind.« Er hob die Briefe vom Boden auf
    und ging weiter auf und ab. »Die Welt kennt diese
    Begebenheiten allerdings aus dem ersten Roman von Mary
    Wollstonecraft Shelley, der Frau des britischen Dichters Percy Bysshe Shelley. Daniel, hast du jemals den Text gelesen, der
    als Mary Shelleys Roman Frankenstein veröffentlicht wurde?«
    Mir war, als hörte ich mehrere Nachrichtensender gleichzeitig: Ich war überfordert. »Hast du?« Zum ersten Mal, seit er zurück war, machte er mir angst.
    Ich nickte.
    »Ausgezeichnet. Du hast also begriffen, daß ich der Unhold
    bin, dessen Werdegang solche unbesonnene, ja
    verleumderische Behandlung durch den ersten Karloff-Film
    erfährt.« Er wedelte kurz mit den Briefen. »Der Unmensch,
    dessen wahre Geschichte sich hier offenbart. Hast du diese
    Briefe oder nur mein Tagebuch gelesen?«
    Ich wies mit dem Kinn auf das Tagebuch drüben auf seinem
    Bett. Wie sollte ich ihm klarmachen, daß ich die vier ersten

    Briefe von Walton nur überflogen und mich dann gleich über
    das Tagebuch hergemacht hatte?
    »Bevor du Fragen stellst, lies diese Briefe«, sagte Jumbo.
    »Alle.« Er legte sie auf mein Pult, auf die Kladde, die ich beim ersten Ächzen der Stiegen zugeklappt hatte.
    Ich nahm die Briefe.
    Jumbo ging zum Bücherregal und nahm ein Buch mit
    fleckigem Einband heraus. »Oder lies noch einmal das hier.
    Der Text entspricht mehr oder weniger dem von Waltons
    Briefen. Wo er abweicht, geben die Briefe die Vorkommnisse
    genauer wieder.« Er gab mir das Buch und nahm die Briefe
    wieder an sich. »Lies einfach das Buch. Die Druckschrift liest sich leichter als Waltons Handschrift.«
    Jumbo band die Briefe wieder zusammen und legte sie samt
    Tagebuch in den Lederbeutel. Er schlang den Perlenknoten,
    verstaute den Beutel im Kajak, pfropfte die Matte ins Sitzloch und schob alles wieder unter sein Bett. Dann verließ er
    kurzerhand das Zimmer.

    29

    KLAMMHEIMLICH EIN BUCH LESEN IST weißgott verlockender
    als es verordnet zu bekommen. Oliver Twist als Schullektüre langweilt dich bis zum Sabbern. Die gleichen Seiten als
    Kostprobe zwischen den Regalen der Bibliothek putschen dich
    auf und befördern dich schneller als ein D-Zug in eine andere
    Welt. Ich hatte Jumbos Tagebuch mit Genuß gelesen. Die
    Frage, wie gerne ich Frankenstein noch einmal las, und das auf Jumbos ausdrücklichen Befehl, war müßig. Ich saß an meinem
    Pult und war drauf und dran, das dicke kleine Buch aus dem
    Fenster zu schmeißen.
    Doch ich fing an, es zu lesen, und rannte mir sofort den Kopf
    ein an diesem Bla-bla-bla, bei dem ich auf der High-School
    schon aus den Schuhen gekippt bin – Sachen wie ›verströmt einen beständigen Glanz‹, ›kannst Du dennoch die
    unschätzbare Wohltat nicht abstreiten, die ich der ganzen
    Menschheit bis ins letzte Glied erwiese‹, ›meine glücklichen Jahre unter deiner sanften Obhut‹, und so weiter und so fort.
    Zum Glück fuhren die Schreiber – Mary Shelley, Robert
    Walton, wer auch immer – endlich die Kanonen und
    Dampforgeln auf, adrenalinproduzierenden Stoff über
    Walfischer, Rußland, Hundeschlitten und ein Wesen von
    gigantischer Statur draußen auf dem Eis – Passagen, die mich natürlich an Jumbos Tagebuch erinnerten und auch an seinen
    hochtrabenden Stil, aber das alles hielt mich wenigstens bei der Stange.
    Schon bald hatte ich den Punkt erreicht, an dem Viktor
    Frankenstein sich entschließt, sein Geschöpf acht Fuß hoch und entsprechend breit zu machen. Es wurde Abend darüber.
    Jumbo brachte mir eine Schüssel mit

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