Brüchige Siege
einzureden, Jumbo würde trotz
seiner Statur und seines Äußeren nie jemandem, mir am
allerwenigsten, an den Kragen gehen. Und jetzt eben hatte ich
vier Wörter in seiner Handschrift gelesen, die meine ganze
sauer verdiente Einbildung von seiner Harmlosigkeit über den
Haufen warf.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Im Aschenbecher
schwelten bereits zwei Kippen. Meine Zunge schmeckte wie
ein verkokeltes Stück Bologneser-Wurst.
Dann fiel mir etwas Beruhigendes ein; das machte mehr Sinn
als Jumbo den wahnsinnigen Golem eines Anatomiestudenten
und Chemikers aus dem achtzehnten Jahrhundert anzuhängen:
Jumbo schrieb an einem Buch, einem Roman. Sein
Riesenformat und sein schiefes Gesicht hatten ihn veranlaßt,
sich mit Karloffs Leinwandmonster zu identifizieren – dem er
gar nicht mal so ähnlich sah – und eine originelle Geschichte zu schreiben, in der er in die Rolle des Monsters schlüpfte.
Diese Hypothese war wie ein Tröpfchen Balsam für meine
Nerven.
Ich las und schrieb weiter:
Mit Frankensteins Leichnam auf der Schulter, kehrte ich
Waltons Schiff den Rücken und schritt energisch gen Süden
aus. In der lang währenden Dämmerung dieser Breite war es
schwer, die Richtung einzuhalten. Dennoch, das Brausen der Meeresströmung unter der Eisdecke und der Segen volleren Sonnenlichts verrieten mir, daß meine Intuition mich nicht getrogen hatte. Selbst der Raubvogel, dessen Schatten
köstliche Kreise auf dem Eis zog, schien mir Recht zu geben.
Seltsamerweise hatte ich keine Ahnung, was mich am Ziel
erwartete oder warum ich diese Strapaze auf mich nahm; noch vor gut einem Monat hatte ich geglaubt, all mein Reisen werde in der prasselnden Lohe eines Scheiterhaufens enden.
Beinah gefühllos stapfte ich durch die weiße Wüste. Ich
orientierte mich am niedrigen, nach Südosten geneigten Lauf der Sonne, der mich schließlich aus dem Eis in eine weite, wellige Schneelandschaft führte. Wenn ich überhaupt eine
Pause einlegte, dann nur, um meine Lippen zu benetzen oder unter der Eiskruste nach einer Wurzel oder Knolle zu stochern, um die Götter des Hungers zu besänftigen. Wann immer ich
auf ein wanderndes Fischerdorf oder eine feste Siedlung stieß, gab ich mir Mühe, eine Konfrontation mit den Einwohnern zu vermeiden. Ich hielt es wie die Wölfe der Tundra und mied die Menschen.
Eine Zeitlang leistete mir in der Tat ein Rudel Wölfe
Gesellschaft. Sie folgten mir seitlich, darauf erpicht, daß ich unter der Last Frankensteins strauchelte und eine leichte Beute wurde. Einmal, in einer Mischung aus Zorn und Frohlocken,
bückte ich mich und schmiedete ein Wurfgeschoß aus Eis. Als ich das Eisgeschoß in ihre Reihen schleuderte, stoben sie
auseinander. Es erschlug – ja, enthauptete fast – ein mageres aber zottiges Tier, was die anderen auf das Lebhafteste
beeindruckte.
Eines Morgens, nachdem ich mich, was selten vorkam, dem
Bedürfnis nach Schlaf überlassen hatte, wachte ich auf und fand mich und die schlaffe Gestalt meines Schöpfers von
Rentieren umgeben. Diese geschmeidigen Tiere knabberten
und rupften, was das Terrain zu bieten hatte, und taten als ob Frankenstein und ich mit dem Boden verschmolzen seien.
Keinerlei Scheu, nicht einmal die leiseste Unruhe waren wir ihnen wert, auch nicht, als ich mich von meinem Schneelager erhob und erneut den Leichnam meines Vaters schulterte. Mir ist, als ob ich meilenweit mit diesen Tieren gewandert sei, ein gestürzter Engel unter den gespenstischen Hirschen der
Eiswüste.
Ein jäher Wetterumschwung bewirkte zu guter Letzt, daß wir uns von der Herde trennten. Ein Sturmwind jagte Eiskörner
über den Schnee. Ich stimmte ein in das Heulen. Bodenformen, die nur um Armeslänge entfernt waren, wurden zu konturlosen Schemen. Ich streckte die Arme aus, um sie zu berühren, mich zu vergewissern. Zwischen den brüllenden Böen glaubte ich
zuweilen phantastische Klippen zu sehen, so weiß wie Milch und so flüchtig wie die Wahrheit.
Endlich erreichte ich jene nur vage wahrgenommene
Formation. Der Sturm schien auf tausend Panflöten zu blasen.
Blindlings stieg ich in einer breiten Felsrinne bergan. Hätte ich geahnt, wie bedrohlich der Aufstieg mit meiner
unhandlichen Last werden würde, ich hätte mich an den
nächstbesten Felsen geworfen und daran festgeklammert wie
eine mit Bewußtsein begabte Flechte. Vielleicht war es ein Glück, daß ich nicht um die Gefahren wußte, denn sonst hätte ich meinen Weg nicht mit der Unbeirrbarkeit
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