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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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einzureden, Jumbo würde trotz
    seiner Statur und seines Äußeren nie jemandem, mir am
    allerwenigsten, an den Kragen gehen. Und jetzt eben hatte ich
    vier Wörter in seiner Handschrift gelesen, die meine ganze
    sauer verdiente Einbildung von seiner Harmlosigkeit über den
    Haufen warf.
    Ich zündete mir eine Zigarette an. Im Aschenbecher
    schwelten bereits zwei Kippen. Meine Zunge schmeckte wie
    ein verkokeltes Stück Bologneser-Wurst.
    Dann fiel mir etwas Beruhigendes ein; das machte mehr Sinn
    als Jumbo den wahnsinnigen Golem eines Anatomiestudenten
    und Chemikers aus dem achtzehnten Jahrhundert anzuhängen:
    Jumbo schrieb an einem Buch, einem Roman. Sein
    Riesenformat und sein schiefes Gesicht hatten ihn veranlaßt,
    sich mit Karloffs Leinwandmonster zu identifizieren – dem er
    gar nicht mal so ähnlich sah – und eine originelle Geschichte zu schreiben, in der er in die Rolle des Monsters schlüpfte.

    Diese Hypothese war wie ein Tröpfchen Balsam für meine
    Nerven.
    Ich las und schrieb weiter:

    Mit Frankensteins Leichnam auf der Schulter, kehrte ich
    Waltons Schiff den Rücken und schritt energisch gen Süden
    aus. In der lang währenden Dämmerung dieser Breite war es
    schwer, die Richtung einzuhalten. Dennoch, das Brausen der Meeresströmung unter der Eisdecke und der Segen volleren Sonnenlichts verrieten mir, daß meine Intuition mich nicht getrogen hatte. Selbst der Raubvogel, dessen Schatten
    köstliche Kreise auf dem Eis zog, schien mir Recht zu geben.
    Seltsamerweise hatte ich keine Ahnung, was mich am Ziel
    erwartete oder warum ich diese Strapaze auf mich nahm; noch vor gut einem Monat hatte ich geglaubt, all mein Reisen werde in der prasselnden Lohe eines Scheiterhaufens enden.
    Beinah gefühllos stapfte ich durch die weiße Wüste. Ich
    orientierte mich am niedrigen, nach Südosten geneigten Lauf der Sonne, der mich schließlich aus dem Eis in eine weite, wellige Schneelandschaft führte. Wenn ich überhaupt eine
    Pause einlegte, dann nur, um meine Lippen zu benetzen oder unter der Eiskruste nach einer Wurzel oder Knolle zu stochern, um die Götter des Hungers zu besänftigen. Wann immer ich
    auf ein wanderndes Fischerdorf oder eine feste Siedlung stieß, gab ich mir Mühe, eine Konfrontation mit den Einwohnern zu vermeiden. Ich hielt es wie die Wölfe der Tundra und mied die Menschen.
    Eine Zeitlang leistete mir in der Tat ein Rudel Wölfe
    Gesellschaft. Sie folgten mir seitlich, darauf erpicht, daß ich unter der Last Frankensteins strauchelte und eine leichte Beute wurde. Einmal, in einer Mischung aus Zorn und Frohlocken,
    bückte ich mich und schmiedete ein Wurfgeschoß aus Eis. Als ich das Eisgeschoß in ihre Reihen schleuderte, stoben sie

    auseinander. Es erschlug – ja, enthauptete fast – ein mageres aber zottiges Tier, was die anderen auf das Lebhafteste
    beeindruckte.
    Eines Morgens, nachdem ich mich, was selten vorkam, dem
    Bedürfnis nach Schlaf überlassen hatte, wachte ich auf und fand mich und die schlaffe Gestalt meines Schöpfers von
    Rentieren umgeben. Diese geschmeidigen Tiere knabberten
    und rupften, was das Terrain zu bieten hatte, und taten als ob Frankenstein und ich mit dem Boden verschmolzen seien.
    Keinerlei Scheu, nicht einmal die leiseste Unruhe waren wir ihnen wert, auch nicht, als ich mich von meinem Schneelager erhob und erneut den Leichnam meines Vaters schulterte. Mir ist, als ob ich meilenweit mit diesen Tieren gewandert sei, ein gestürzter Engel unter den gespenstischen Hirschen der
    Eiswüste.
    Ein jäher Wetterumschwung bewirkte zu guter Letzt, daß wir uns von der Herde trennten. Ein Sturmwind jagte Eiskörner
    über den Schnee. Ich stimmte ein in das Heulen. Bodenformen, die nur um Armeslänge entfernt waren, wurden zu konturlosen Schemen. Ich streckte die Arme aus, um sie zu berühren, mich zu vergewissern. Zwischen den brüllenden Böen glaubte ich
    zuweilen phantastische Klippen zu sehen, so weiß wie Milch und so flüchtig wie die Wahrheit.
    Endlich erreichte ich jene nur vage wahrgenommene
    Formation. Der Sturm schien auf tausend Panflöten zu blasen.
    Blindlings stieg ich in einer breiten Felsrinne bergan. Hätte ich geahnt, wie bedrohlich der Aufstieg mit meiner
    unhandlichen Last werden würde, ich hätte mich an den
    nächstbesten Felsen geworfen und daran festgeklammert wie
    eine mit Bewußtsein begabte Flechte. Vielleicht war es ein Glück, daß ich nicht um die Gefahren wußte, denn sonst hätte ich meinen Weg nicht mit der Unbeirrbarkeit

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