Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
Vom Netzwerk:
Jumbo so garstig fand? Wahrscheinlich
    hatte sie damit zweierlei auf einmal gemeint.
    »Nimm ihre Einladung an«, sagte Jumbo.
    Miss LaRaina, die in einem grauen ‘38er Pontiac am
    Bordstein wartete, drückte auf die Hupe – einmal, zweimal.
    Phoebe sah mich mit bohrenden Augen an, halb bittend und
    mehr als nur ein bißchen gereizt.
    »Er nimmt an«, sagte Jumbo. »Nicht wahr, Daniel?« Ich
    spürte seine Hand am Hinterkopf. Er kippte meinen Kopf vor
    und zog ihn am Haar wieder zurück. Dann ließ er los. Für
    Phoebe hatte ich genickt.
    »Bis Freitag also, nach dem Spiel«, sagte sie. »Wir nehmen
    dich dann mit, sobald du geduscht hast.« Sie schien ein
    bißchen zu hüpfen auf dem Weg zu Mamas qualmendem
    Pontiac.
    Der Bomber brachte uns Hellbenders nach McKissic House.
    Eine Handvoll Jungs zog mich auf wegen Phoebe, doch Darius
    blieb so still wie ein Glücksspieler, der seine Chancen beim
    Blackjack kalkuliert.

    30

    »DA.« JUMBO LEGTE MIR SEIN TAGEBUCH aufs Pult. »Den
    ersten Teil hast du abgeschrieben.« Er legte meine Kladde
    dazu. »Fahre fort. Handle, als wärst du mein Sekretär, und
    schreibe weiter. Eines Tages kannst du eine Geschichte
    erhärten, die anders kaum jemand glauben würde.«
    Das Nebeneinander von Tagebuch und Kladde machte mich
    verlegen, doch ich schlug beide auf und las weiter, wo ich
    aufgehört hatte – nämlich bei Jumbos Wiedererwachen in der
    vereisten Höhle. Mit seinem Einverständnis trug ich Satz für
    Satz des neuen Materials in meine Kladde ein.

    Durch Reue zur Selbstachtung: Mein zweites Leben

    Am Anfang meines neuen Lebens, wie schon während meines
    alten, konnte mich bitterste Kälte nicht schrecken. Ich zog sie sogar der Wärme des Sommers vor und reagierte auf sie wie
    eine Vorrichtung aus Kolben, Schwungrädern und Zahnrädern
    auf Schmierfett.
    Ich fühlte mich weniger durch
    Witterungseinflüsse behindert als durch den Leichnam meines Schöpfers. Ich fühlte mich verpflichtet, ihn bei mir zu tragen, einmal als makabren Talisman und zum anderen als Reliquie
    meiner haßerfüllten Verehrung. Wohin immer es mich
    verschlug, ich trug Frankenstein bei mir, zu Anfang geschultert oder unter dem Arm, später dann auf einem primitiven
    Lastschlitten, einem Geflecht aus immergrünen Zweigen
    zwischen zwei Stangen, den ich mit einem Hüftgeschirr aus
    Rinde hinter mir herschleppte. Ich kam mir vor wie eine Braut, die ihren Brautzug anführt. Anders als sie wollte ich
    niemandes Aufmerksamkeit erregen und wanderte
    ausschließlich bei Nacht, oftmals durch dichten Wald oder
    zerklüftetes Gelände. Mehr als einmal mußte ich meine Last nach einem heftigen Sturz wieder auf die Bahre legen und neu vertäuen.
    Welche Gedanken mir durch den Kopf gingen – welches
    übergeordnete Ziel ich verfolgte – kann ich zur Gänze nicht mehr erinnern. Ich glaube aber, mir war im Morgengrauen
    meines zweiten Lebens durchaus bewußt, daß ich so wenig
    hoffen durfte, Gefährten um mich zu sammeln und mögliche
    Feinde zu beschämen, wie bereits in dem unheiligen Jahr
    meines ersten Lebens. Dementsprechend durchwanderte ich
    die entlegensten und einsamsten Gegenden Sibiriens, vermied jedweden menschlichen Kontakt, nutzte aber jede Gelegenheit, die Sitten und Gebräuche jener fremden Wesen zu studieren, durch deren Land ich irrte.
    So konnte ich, nachdem ich mich in meiner ersten Sprache
    durch Belauschen einer weiteren Lektion in Französisch
    weitergebildet hatte, meinem Repertoire nicht nur Englisch und Deutsch hinzufügen, sondern auch die kuriosen
    ∗
    hyperboreischen Idiome der Kets, Jukagirs, Ljorawetis und Giljaks. Hinzugewinnen konnte ich die Dialekte anderer
    Volksgruppen an den Fjorden und Buchten des nördlichen
    Polarkreises, nicht zu vergessen die beiden Hauptdialekte der Inuit oder Esquimaux jenseits der Tschuktschensee* in
    Nordamerika.
    Bei einem Blizzard suchte ich Schutz in einem Schuppen, der mit Tundrasteinen gedeckt und mit Torfmoos abgedichtet war und gen Nordosten seinerseits von knorrigen Zedern geschützt wurde. Im einzigen Raum des Unterstandes leistete mir das grinsende Skelett eines verhungerten Kosaken-Trappers

    ∗ nordisch, arktisch

    Gesellschaft. Dieser stumme Mitbewohner wuchs mir mehr ans Herz als Frankenstein es je vermocht hatte, denn ich konnte mich nicht entsinnen, je von ihm mißbraucht oder geschmäht worden zu sein. Die beiden Leichen vertrugen sich jedoch gut, und ich erfreute mich ihrer unaufdringlichen Großmut.
    Niemand protestierte, als

Weitere Kostenlose Bücher