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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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Gemüse und eine Gabel.
    »Iß«, sagte er.
    Sein Gesicht – gelbe Wangen, wässrige Augen, bläulich
    schwarze Lippen – paßte genau auf die erste Beschreibung des
    Monsters im Buch. Ich las weiter und aß, ohne den Blick aus
    dem Buch zu nehmen.
    Ich las die ganze Nacht. Keine Ahnung, ob Jumbo sich
    draußen die Füße vertrat oder auf einem Sofa im Clubraum
    döste. Gegen vier Uhr früh steckte er den Kopf ins Zimmer,
    gerade als der Unhold im Buch sagte: Mit Verbrechen befleckt und von bittersten Gewissensqualen zerrissen, kann ich
    nirgendwo mehr Ruhe finden außer im Tod.
    Ähm… wo? Ich winkte Jumbo ins Zimmer und las die letzten drei Abschnitte des Romans.
    »Na?« meinte er.
    Ich stieß das Buch zurück und begann, die Hände in den
    Gesäßtaschen, auf und ab zu gehen. Ich muß wohl ein bißchen
    so ausgesehen haben wie der geplagte Anatomiestudent am
    Höhepunkt seines Projekts: rotgeränderte Augen, verschwitztes
    Haar, die Hände so flatterig wie verzagt.
    Jumbo war mit Leib und Seele aus einem
    zusammengeflickten Unding hervorgegangen, das dieser
    Viktor Frankenstein trickreich zum Leben erweckt hatte. In der Erzählung, die angeblich aus der Feder von Mrs. Shelley
    stammte, war Jumbo namenlos, er wurde als Wesen, Geschöpf,
    Monster, Unhold oder Dämon gehandelt, und niemand außer
    Mr. Niemand redete es mit Mister oder Sir an. Jumbo hatte sich ausgerechnet den Namen von Frankensteins bestem
    Freund zugelegt – Henry Clerval, einem seiner Mordopfer. Ich
    sollte also glauben, daß er wenigstens fünf Menschen getötet oder zumindest auf dem Gewissen hatte, unter anderem den
    Mann, der ihn erschaffen hatte, und dessen Freund Clerval.

    Doch trotz seines Tagebuches und seiner frappierenden
    Ähnlichkeit mit dem Monster war das Ganze ein bißchen zu
    eckig für meinen runden Kopf. Ich hatte zwar immerzu dieses
    Schiff vor Augen, das im Eis der Barents-See gefangen saß,
    aber die entfernte Möglichkeit, Hoey und Konsorten könnten
    mich tüchtig auf die Schippe nehmen, hielt mich davon ab,
    dieser unglaublichen ›Wahrheit‹ so mir nichts dir nichts auf
    den Leim zu gehen.
    »Ich bat dich, meine Geschichte zu lesen«, sagte Jumbo,
    »weil du mir sicher nicht unterstellen würdest, ich sei in dieser Epoche meines Lebens noch solcher Verbrechen fähig, wie ich
    sie in meiner Jugend begangen habe. Ich brauche einen
    Verbündeten, Daniel.«
    Ich rieb mir die Oberarme wie jemand, der im Fleischerladen
    am Kühlfach steht. Mein Hirn bekam die Platzangst von zwei
    gemästeten Truthähnen.
    »Training in vier Stunden«, sagte Jumbo. »Vielleicht sollten
    wir schlafen.« Er streckte sich aufs Bett und produzierte nach weniger als dreißig Sekunden die vertrauten Laute einer
    Seekuh.
    Meine Fragen reihten sich zu einer besorgniserregend langen
    Kette. In Mrs. Shelleys Version von Dr. Frankensteins
    Lebensbeichte, da war sein Geschöpf ein regelrechtes
    Monstrum: acht Fuß hoch. Niemand, der sich nicht davor duckte oder nach einem Stock umsah. Kein Sterblicher
    vermöchte die Schrecklichkeit dieses Anblicks zu ertragen, hatte Frankenstein gesagt. Nicht einmal Dante habe sich so
    etwas ausgedacht. Woraus zu schließen ist, daß Dante nie die
    Südstaaten bereist hatte: Jumbo durfte zwar mit Recht und Fug
    verlangen, daß man ihn häßlich fand, aber wenn man die
    Augen aufmachte, war er nicht viel unansehnlicher als manch
    einer, der abends im K-mart herumstöbert.
    Und die anderen Fragen?

    Na ja, der Unhold des ›Romans‹ war so flink und so zäh wie
    ein olympischer Athlet. Einmal ist er wie ein Affe mit Vernier-Düsen ruckzuck einen kleinen Steilhang hinauf. Jumbo sah
    oberhalb der Gürtellinie wie ein Gorilla aus, aber bei den Beinen hätte er niemals so flott klettern können.
    Auch mit Jumbos Alter hatte ich ein Problem. Wenn er und
    das Monstrum in Mrs. Shelleys ›Roman‹ ein und dieselbe
    Person waren, was hatte mein Zimmergenosse dann in den
    letzten anderthalb Jahrhunderten getrieben? Wer so groß war,
    konnte sich nicht lange verstecken, zumindest nicht in einer
    Stadt, und ich konnte mir nicht vorstellen, was ihn an die
    Baseballgestade von Highbridge verschlagen hatte.
    Und schließlich, was dachte Jumbo über Jumbo? Bei allem,
    was ihm passiert war? Dr. Frankenstein hatte den Anblick
    seines eigenen Geschöpfes nicht ausgehalten. Er war getürmt,
    kurz nachdem er die Leichenteile wachgekitzelt hatte, aus
    denen es zusammengestückelt war. Wenn er wirklich so in
    Panik gewesen war, dann konnte

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