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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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wurde) schritt der
    Verwesungsprozeß in seinem Innern nur schubweise voran.
    Obwohl die Leiche zu keinem Augenblick einen unerträglichen Geruch verströmte, war sie nie oder nur an den eisigsten
    Tagen gänzlich frei von einem süßlichen Duft. An solchen
    Tagen waren seine Glieder so starr wie Gewehrläufe; doch am Gipfel des sibirischen Sommers baumelten sie wie die Glieder einer Stoffpuppe und entließen mit jeder Bewegung ihren
    milden Gestank.
    »Oh, Frankenstein!« kam es mir einmal über die Lippen.
    »Erweise ich dir so meine Ehre? Was sagen dir deine
    blicklosen Augen? Kann ich so meine Schuld abtragen?«
    Dem denkenden Geschöpf wie dem Nomaden in mir fehlte es
    an Richtung. Genf, jene Stadt, in der die Gebeine meines
    Erzeugers noch am ehesten willkommen waren, sie lag in
    schier unerreichbarer Ferne. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Meilen mich von ihr trennten. Ebensogut hätte sie in einem Tal auf Luna liegen können, denn wie ohne Engelsschwingen sollte ich die Schweiz erreichen?
    Nicht selten kam mir der Gedanke, mich von meiner Last zu
    befreien und meinem Schöpfer die letzte Ehre zu erweisen,
    indem ich das, was von ihm übrig war, auf irgendeiner
    ungeschützten Felszunge aussetzte, wo Adler und Wolf ihm
    vermittels ihres Freßapparates huldigen konnten. Frankenstein hatte die Alpen geliebt, die Majestät der Gletscher und die wüste Herrlichkeit der Landschaften. Hätten das
    allgegenwärtige Eis und die Berge des östlichen Sibiriens bei solch einer Bestattung, die ebenso verspätet wie verfrüht war, nicht die Rolle der Alpen spielen können?
    Auch wenn es mir so vorkam, meine gestrenge Bußfertigkeit
    ließ das Argument nicht gelten.
    Zu guter Letzt entdeckte ich jedoch an einem Binnengewässer der Tschuktschensee einen vorübergehenden Ruheplatz für
    Frankenstein, eine Felsgrotte, die ich mit Treibholz, Eis- und Gesteinsschutt tarnte, in der ich ihn während meiner Streifzüge sicher verstecken konnte. Damit trug ich seinem Leichnam
    Rechnung und nicht zuletzt meinem Gewissen.

    Wieso, mag der hypothetische Leser insistieren, irrte ich durch die sibirische Wildnis, ohne menschlichen Anschluß zu
    suchen? Einerseits ist diese Frage naiv, denn so wie mich die menschliche Spezies behandelte, angefangen bei Viktor
    Frankenstein bis zu den Tschuktschenjägern, die mir erst
    kürzlich begegnet waren, verspürte ich wenig Neigung, ihr zu vertrauen. Andererseits aber erfordert die Frage eine Antwort, denn ich hatte ja unter anderem den Vorsatz gefaßt, seßhaft zu werden und mich anzupassen. Aus dieser Eingliederung in die menschliche Gesellschaft würde nichts werden, denn solange sich meine Streifzüge auf entlegenes Ödland beschränkten,
    kam es nicht einmal zur flüchtigsten Berührung mit den
    Artgenossen meines Schöpfers.
    Ich sah ein, daß nicht das Geringste geschehen war, um den Menschen auch nur ein Jota von der Angst zu nehmen, die
    ihnen mein Anblick machte. Meine Gestalt und meine
    abscheulichen Züge hatten mir sogar Frankenstein zum Feind gemacht. Seine schwache Seele hatte den Genius übermannt;

    als ich zum ersten Mal die Augen aufschlug, hatte er mich
    bereits verstoßen. Meine Erinnerung an jenen Augenblick ist ungetrübt: die Flecken von Chemikalien auf seinen Händen,
    das Aufflackern unsäglichen Ekels in seinen Augen.
    Unglücklicherweise ließ mein mißratenes, nach wie vor
    angsteinflößendes Gesicht kein Mitleid zu. Selbst wenn mein Gesicht die Anmut Apollons gehabt hätte, die Furchtsamen
    und Vorsichtigen würden in meinen gewaltigen Ausmaßen
    nach wie vor ein unleugbares Potential an Unheil und
    Zerstörung sehen. Entsprechend war die allgemeine Taktik der Menschen im Umgang mit mir – man suchte sein Heil
    entweder in der Flucht oder in der präventiven Anwendung
    einer häßlichen Karikatur der Goldenen Regel, die da lautete: Füge du Frankensteins Kreatur zu, was sie dir fraglos zufügen
    will.
    Deshalb blieb ich in Übung und war stolz auf meine Umsicht.
    Innerlich zelebrierte ich diese Kunst, die ich in der Schweiz und auf den Orkney-Inseln vervollkommnet hatte. Ich konnte ein Seufzen oder Rascheln meiner menschlichen Beute
    ausnutzen, um mich ihr unbemerkt zu nähern. Jetzt aber führte ich nichts Böses mehr im Schilde. Ich redete mir ein, meine Verstohlenheit erleichtere mir das Beobachten von Menschen, während sie mir tatsächlich zur zweiten Haut geworden war, die mich vor Berührungen mit denselben bewahrte und mich
    an die Einsamkeit gewöhnte.

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