Brüchige Siege
wurde) schritt der
Verwesungsprozeß in seinem Innern nur schubweise voran.
Obwohl die Leiche zu keinem Augenblick einen unerträglichen Geruch verströmte, war sie nie oder nur an den eisigsten
Tagen gänzlich frei von einem süßlichen Duft. An solchen
Tagen waren seine Glieder so starr wie Gewehrläufe; doch am Gipfel des sibirischen Sommers baumelten sie wie die Glieder einer Stoffpuppe und entließen mit jeder Bewegung ihren
milden Gestank.
»Oh, Frankenstein!« kam es mir einmal über die Lippen.
»Erweise ich dir so meine Ehre? Was sagen dir deine
blicklosen Augen? Kann ich so meine Schuld abtragen?«
Dem denkenden Geschöpf wie dem Nomaden in mir fehlte es
an Richtung. Genf, jene Stadt, in der die Gebeine meines
Erzeugers noch am ehesten willkommen waren, sie lag in
schier unerreichbarer Ferne. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Meilen mich von ihr trennten. Ebensogut hätte sie in einem Tal auf Luna liegen können, denn wie ohne Engelsschwingen sollte ich die Schweiz erreichen?
Nicht selten kam mir der Gedanke, mich von meiner Last zu
befreien und meinem Schöpfer die letzte Ehre zu erweisen,
indem ich das, was von ihm übrig war, auf irgendeiner
ungeschützten Felszunge aussetzte, wo Adler und Wolf ihm
vermittels ihres Freßapparates huldigen konnten. Frankenstein hatte die Alpen geliebt, die Majestät der Gletscher und die wüste Herrlichkeit der Landschaften. Hätten das
allgegenwärtige Eis und die Berge des östlichen Sibiriens bei solch einer Bestattung, die ebenso verspätet wie verfrüht war, nicht die Rolle der Alpen spielen können?
Auch wenn es mir so vorkam, meine gestrenge Bußfertigkeit
ließ das Argument nicht gelten.
Zu guter Letzt entdeckte ich jedoch an einem Binnengewässer der Tschuktschensee einen vorübergehenden Ruheplatz für
Frankenstein, eine Felsgrotte, die ich mit Treibholz, Eis- und Gesteinsschutt tarnte, in der ich ihn während meiner Streifzüge sicher verstecken konnte. Damit trug ich seinem Leichnam
Rechnung und nicht zuletzt meinem Gewissen.
Wieso, mag der hypothetische Leser insistieren, irrte ich durch die sibirische Wildnis, ohne menschlichen Anschluß zu
suchen? Einerseits ist diese Frage naiv, denn so wie mich die menschliche Spezies behandelte, angefangen bei Viktor
Frankenstein bis zu den Tschuktschenjägern, die mir erst
kürzlich begegnet waren, verspürte ich wenig Neigung, ihr zu vertrauen. Andererseits aber erfordert die Frage eine Antwort, denn ich hatte ja unter anderem den Vorsatz gefaßt, seßhaft zu werden und mich anzupassen. Aus dieser Eingliederung in die menschliche Gesellschaft würde nichts werden, denn solange sich meine Streifzüge auf entlegenes Ödland beschränkten,
kam es nicht einmal zur flüchtigsten Berührung mit den
Artgenossen meines Schöpfers.
Ich sah ein, daß nicht das Geringste geschehen war, um den Menschen auch nur ein Jota von der Angst zu nehmen, die
ihnen mein Anblick machte. Meine Gestalt und meine
abscheulichen Züge hatten mir sogar Frankenstein zum Feind gemacht. Seine schwache Seele hatte den Genius übermannt;
als ich zum ersten Mal die Augen aufschlug, hatte er mich
bereits verstoßen. Meine Erinnerung an jenen Augenblick ist ungetrübt: die Flecken von Chemikalien auf seinen Händen,
das Aufflackern unsäglichen Ekels in seinen Augen.
Unglücklicherweise ließ mein mißratenes, nach wie vor
angsteinflößendes Gesicht kein Mitleid zu. Selbst wenn mein Gesicht die Anmut Apollons gehabt hätte, die Furchtsamen
und Vorsichtigen würden in meinen gewaltigen Ausmaßen
nach wie vor ein unleugbares Potential an Unheil und
Zerstörung sehen. Entsprechend war die allgemeine Taktik der Menschen im Umgang mit mir – man suchte sein Heil
entweder in der Flucht oder in der präventiven Anwendung
einer häßlichen Karikatur der Goldenen Regel, die da lautete: Füge du Frankensteins Kreatur zu, was sie dir fraglos zufügen
will.
Deshalb blieb ich in Übung und war stolz auf meine Umsicht.
Innerlich zelebrierte ich diese Kunst, die ich in der Schweiz und auf den Orkney-Inseln vervollkommnet hatte. Ich konnte ein Seufzen oder Rascheln meiner menschlichen Beute
ausnutzen, um mich ihr unbemerkt zu nähern. Jetzt aber führte ich nichts Böses mehr im Schilde. Ich redete mir ein, meine Verstohlenheit erleichtere mir das Beobachten von Menschen, während sie mir tatsächlich zur zweiten Haut geworden war, die mich vor Berührungen mit denselben bewahrte und mich
an die Einsamkeit gewöhnte.
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