Brüchige Siege
meiner Macht, mich Ihrer Treue zu
versichern. Sollten Sie sich Ihrer Aufgabe anders entledigen, als sie es von Ihnen verlangt, müssen Sie weder meinen
Bannfluch noch die ewige Verdammnis fürchten. Ich verlasse mich ganz und gar auf Ihr Gefühl für Anstand und Ehre.«
»Ein großes Gefühl«, sagte Ross und ließ offen, ob seine
Worte Wert- oder Geringschätzung bedeuteten. Er las seine
Figürchen auf und steckte sie in einen wasserdichten Beutel aus Fischhaut. Ich nahm indessen die Briefe aus der Tasche, die für Mrs. Saville bestimmt waren. Ich erläuterte ihm seine Aufgabe und vertraute ihm das Päckchen an. Wiewohl ich
seine Willfährigkeit nicht erzwingen konnte, bat ich ihn,
niemandem von unserer Begegnung in Janalach zu erzählen, geschweige denn von unserem Gespräch.
»Aber wer bist du?« fragte Ross. »Was bist du?«
»Weil du willens bist, dafür zu sorgen, daß diese Briefe ihren Adressaten erreichen, will ich dir erlauben, sie zu lesen«, sagte ich. »Sie erklären, wenn auch nicht immer aufrichtig und
einfühlsam, was ich an diesem trostlosen Küstenstrich nicht zur Sprache bringen will. Leben Sie wohl, Mr. Ross. Ich danke Ihnen im voraus für Ihre aufrechte Haltung in dieser wichtigen Angelegenheit.« Mit diesen Worten sprang ich in einen nahen Spalt und erklomm den Kamin, denn oben auf der Klippe
wartete in einer Trutzburg aus Eis- und Gesteinstrümmern
mein Herr und Gebieter.
Ross blieb, wie ich beobachtete, eine Zeitlang wie
angewurzelt stehen. Hatte ihn ein Tagtraum genarrt?
Schließlich belehrte ihn das Päckchen, das er in der Hand
hielt, eines anderen, und er kehrte gedankenverloren in die Gesellschaft von Menschen zurück.
Wie ich Jahre später erfuhr, war Ross seiner Menschenpflicht nachgekommen. Auf dem Weg nach Kirkcaldy hatte er die ihm
anvertrauten Briefe – nein, meine Abschriften derselben – Mrs.
Saville ausgehändigt, einer Nachbarin der Godwins in
Holburn. Später hatte Mrs. Saville Trost gesucht und sie einem Mitglied jener Familie überlassen, das sie entweder lesen und vernichten oder mit Billigung von M. I. Godwin & Co.
veröffentlichen sollte.
Ross hatte Waltons Schwester berichtet, er habe die Briefe von einem Riesen bekommen, der, wie er beim Lesen derselben festgestellt habe, der beschriebenen Kreatur zum Verwechseln ähnlich sah. Mrs. Saville, die gleich erkannte, daß die
Handschrift eine gute aber unvollkommene Fälschung der
Handschrift ihres Bruders war, verwarf die Darstellung des Schotten und hielt die Briefe für einen grausamen Streich. Vor langer Zeit schon war sie zu der schmerzlichen Überzeugung gelangt, daß ihr Bruder tot sein müsse. Was William Godwin*
anging, der ›Enquiry Concerning Political }ustice‹ und den Roman ›Caleb Williams‹ geschrieben hatte, so konnte er sich weder dazu durchringen, jenes sonderbare Manuskript zu
vernichten, das ihm seine zweite Frau, die einstige Mary Jane Clairmont, vorgelegt hatte, noch es zu veröffentlichen.
Durch Zufall oder Nachlässigkeit gerieten die Briefe in die Hände der blutjungen Mary Wollstonecraft Godwin, eines
äußerst intelligenten, eigenwilligen und energischen Mädels.
Sie betrachtete Waltons Briefe als ein kabbalistisches
Dokument von prometheischer Bedeutung. Noch bevor sie im
Sommer 1814 mit dem verheirateten Dichter Percy Bysshe
Shelley zum Kontinent ›durchbrannte‹, hatte sie sich geplagt, aus dem Material eine lesbare Geschichte zu machen. Nahezu vier Jahre später, nachdem sie meine Abschriften der Briefe bearbeitet und gekürzt hatte, ließ Mary nach weiteren
Korrekturen seitens ihres Gatten zu, daß dieselben anonym in drei schmalen Bändchen erschienen, und zwar in dem wenig
renommierten Verlagshaus ›Lackington, Hughes, Harding,
Mavor & Jones‹.
Manche Literaturhistoriker behaupten, dieser ›Roman‹ habe
das Licht der Welt nur deshalb ohne Autorennennung erblickt, weil Mrs. Shelley befürchten mußte, bei ihren Kritikern auf schlichten Unglauben zu stoßen: Eine so blutjunge Frau
konnte sich unmöglich eine derart brutale und abscheuliche Geschichte ausdenken. Andere meinen, sie habe ihren Namen
nur deshalb unterschlagen, weil sie befürchtet habe, ihr Ruf als schonungslose und unorthodoxe, ja anarchistische Frau
könne die Leserschaft kopfscheu machen und dem Absatz des
Werkes schaden. Ich kenne einen simpleren Grund für die
anonyme Veröffentlichung. Mrs. Shelley, wiewohl das
Manuskript ihr gewisse ›erhellende‹ Veränderungen
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