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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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Trümmern
    Trojas trägt.« Henry schloß die Augen. »Hörst du, wie er
    singt?

    Come then, dear father, up onto my back.
    I will bear you on my shoulders – you will be
    No burden to me at all, and whatever befall us,
    One and the same peril will face us both,
    ∗
    And there will be one and the same salvation!«

    Er schlug die Augen wieder auf. »Freilich kam ich auf meinem
    Weg durch den amerikanischen Nordwesten allmählich in
    Tauwetter. Gliedmaßen, einst so hart wie Stein, verloren an
    Festigkeit und gingen in einen geschmeidigen und
    aromatischen Zustand von Verwesung über. Ich häutete einen
    toten Elch, an dem die Geier noch nicht gepickt hatten, und
    einen Bison, der verdurstet war, wickelte den Leichnam in die
    Häute und erneuerte Frankensteins Verpackung jedesmal,
    wenn ich weiterzog. Im Laufe der letzten Saison habe ich
    diesen Kokon angefertigt. Die Bälle zu schälen und ihre
    ledernen Schwingen in der geeigneten Weise
    zusammenzufügen war eine langwierige und mühselige Arbeit.
    Die Nadeln, die ich zerbrochen habe, sind Legion.«
    Henry schenkte seinem Vater einen bewundernden Blick.
    »Meinst du nicht auch, er gibt einen hübschen, langen

    ∗ Adaption: Komm also, geliebter Vater, auf meinen Rücken. Ich will dich auf den Schultern tragen – Du wirst mir überhaupt keine Bürde sein, Und was immer uns bevorsteht, Wir werden derselben Gefahr ins Auge blicken, Und uns wird dieselbe Rettung zuteil.

    Schweinebraten ab, auch wenn es beim Augenschmaus
    bleibt?« Er schien zu erwarten, daß ich jetzt »Amen« sagte.
    »Bestimmt«, sagte ich. Und Henrys eingenähter Daddy
    machte wirklich was her.
    »Knie dich da hin, Daniel.«
    Ich gehorchte, hauptsächlich weil die Decke so tief
    herunterkam, daß mir das Hinknien selbst unter erschwerten
    Bedingungen leichtfiel. Ich stellte meine Krücke an die
    Klavierkiste.
    »Nimm meinen Vater für den deinen, Daniel. Schmähe ihn
    für seine väterliche Untreue oder gräme dich im stillen um den bislang unbeweinten Verlust. Oder tue beides. Zuweilen
    müssen wir wüten, um zu erkennen, schmähen, um zu
    rechtfertigen.«
    Wie ich so dakniete, tapste Henry leise aus der Kammer.
    Seinen Daddy für den meinen zu nehmen und ihm tüchtig die
    Leviten zu lesen, mag auf eine bestimmte Weise geholfen
    haben; auf eine andere schien es überhaupt nichts zu bewirken.
    Nach einer Weile hatte sich mein Hirn in eine glupschige
    Kugel aus Achsenschmiere verwandelt. Ich lehnte den Kopf an
    die Frachtkiste und versuchte, das ganze traurige Gewimmel
    aus meinem Innern herauszulassen.
    Vergeblich.

    Aus Freundlichkeit (oder Mitleid) blieb ich noch zwei Tage bei Henry. In einem Bunker zwei Dutzend Fuß von diesem in
    Pferdeleder eingenähten Daddy zu schlafen, war noch
    gruseliger als bei Henry einquartiert zu werden. Es wurmte
    mich, daß ich ein Eisenbahnticket nach Hause hatte, während
    er nur dieses Erdloch in der Uferböschung hatte, so
    einfallsreich es sein mochte, – und so gut wie keine Aussicht auf eine bessere Zukunft.

    »Was hast du vor?« fragte ich ihn am Mittwochabend.
    »Ich stehe weiterhin in der Schuld von Buck Hoeys Witwe
    und den Kindern.«
    »Du kannst doch nicht um Highbridge herumschleichen, um
    ihnen jeden Tag einen Gefallen zu tun. Man wird dich
    verhaften.«
    »Meine Tat – nenne sie ein Verbrechen oder eine
    angemessene Bestrafung – hat Leid über Hoeys Familie
    gebracht. Ich möchte meine Schuld abtragen.«
    »Aber du wolltest ihn nicht töten.«
    »Vielleicht doch. Ich wollte… daß er büßte.«
    »Tja, du bist mir vielleicht ein Held – reparierst Ketten von Hollywoodschaukeln, setzt Körbe mit Lebensmitteln ab, hackst
    Holz – aber so geht das nicht weiter, Henry.«
    »Mein Rückfall verurteilt mich zur Höchststrafe.«
    Diese Bemerkung – die Art, wie er dasaß, den Kopf in die
    Hände gestützt – machte mir Sorge. Ich sah schon, wie er das
    Handtuch warf und sich von einer Klippe stürzte – selbst wenn
    ihn das eher zum Krüppel machte, als daß es ihn umbrachte.
    Was für ein Kreuz. Er war lebensmüde, aber er konnte nicht
    sterben.
    Ich wühlte in meinem Seesack und fand den Brief, den er mir
    geschrieben hatte. Ich las ihm daraus vor: »In dieser meiner viel länger währenden Inkarnation, von vielen akzeptiert und von vielen bejubelt, habe ich bloß ein einziges Mal getötet, Daniel, und zwar… aus Liebe.« Henry sah nicht einmal auf.
    »Nicht aus Rache, sagst du. Aus Liebe. Entwicklung nennst du es hier.«
    »Haarspalterei.

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