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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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wundern, wenn du dich wunderst.«
    Mein Blick wanderte über die flackernden Kaffeebüchsen,
    die Matten, die Baseballsachen, die den Raum schmückten,
    dann sagte ich: »Du hättest dem guten Bebout ein paar Tips
    geben können.«
    »Habe ich getan.«
    »Na ja, da hat er aber nicht zugehört.« Warum hatte Henry
    mich hierhergebracht? Auch wenn es hier einen Anflug von
    Wohnlichkeit gab, so gab es weit und breit keinen Hahn, der
    danach krähen würde, wenn Henry mir den Schädel knackte
    und mit bloßen Fingern mein Gehirn verschmauste – aber er
    war kein Fleischesser. Denn selbst im achtzehnten Jahrhundert, als er vom Irrtum regiert wurde, da hatte er sich lieber von
    Nüssen und Beeren ernährt als von tierischem Fleisch, und

    mehr als ein bißchen hatte seine vegetarische Lebensweise
    auch bei den Ungpekmat nicht gelitten. Hätte ich nicht so
    gefröstelt und wäre meine Kleidung nicht so klamm gewesen,
    hätte ich die Behaglichkeit von Henrys Kaninchenbau am
    Tholocco-Creek, die Blechkannenlichter und die Schatten, die
    sie warfen, und den fast unhörbaren Sprühregen draußen sogar
    genießen können.
    »Unsere Väter haben uns im Stich gelassen, Daniel. Der
    deine hat sich von dir abgewendet und dich vergessen, der
    meine hat sich von mir abgewendet und wollte mich vergessen.
    Dein Erzeuger hat – wie der meine – auf jede Teilhabe an
    deinem Werdegang verzichtet und sich der Verpflichtung
    entzogen, dich zu erziehen.«
    »Dick Boles hat mir beigebracht, wie man Baseball spielt.«
    Henry schwieg. Er hatte sich zu wilden Vergleichen
    verstiegen, und mein Tribut verdutzte ihn. Er fing sich wieder.
    »Sicher keine Kleinigkeit. Ein Unterricht, den man nicht
    unterschätzen sollte.«
    »Aber worauf wolltest du hinaus?«
    »Vor kurzem ist dein Vater gestorben. Vielleicht hast du in
    den vergangenen Jahren einen unausgesprochenen Zorn
    genährt, aber du hast deinen Vater noch nicht betrauert –
    während ich schon früh in meinem zweiten Leben widerwillig
    Victor Frankenstein betrauert habe.«
    »Und?«
    »Du mußt diesen Prozeß noch durchmachen, Daniel, oder
    vieles von dem, was dir bevorsteht, oder was dir als Resultat
    deiner eigenen Initiative erscheint, wird dir am Gaumen
    gerinnen.«
    »In Ordnung. Und wie macht man das?«
    Die Frage traf ihn unvorbereitet. »Was?«
    »Jemanden betrauern.«

    »Oh«, sagte er. »Oh.« Er krabbelte von der Wand fort und
    deutete mit dem Kinn in eine entferntere Kammer.
    »Folge mir.« Und dann ging es in Watschelhocke zu einer
    Art unterirdischem Kapellchen. Hier machte ich, als er den
    Kerzenhalter absetzte, einen absonderlichen menschlichen
    Schemen aus, der von Kopf bis Fuß in einer Art Zwangsjacke
    steckte und – wie ein ägyptischer Pharao – ausgestreckt auf der heruntergestutzten Frachtkiste eines Klaviers lag.
    Als Henry die Kerze hochhielt, um mir die improvisierte
    Leichenbahre zu zeigen, sah ich, was auf der Lattenkiste
    vermerkt stand: MENDELSSON / Ship to 486 Mims Street /
    Opp*, Ala.
    Die Schablonenbuchstaben tanzten im
    Flackerschein der Kerze. Die Gestalt darüber sah aus wie eine
    Mumie. Das war eine Mumie. Und es war die merkwürdigste, die mir je unter die Augen gekommen war, selbst wenn mir
    noch nie eine unter die Augen gekommen war – was ja, wie
    auch der Dümmste weiß, zutraf. Ganz zu schweigen davon,
    daß in dieser Mumie die Überreste eines spinnerten Schweizer
    Chemikers steckten, der erst vor anderthalb Jahrhunderten das
    Zeitliche gesegnet hatte.
    Ich hängte mich in die Krücken und langte aus, um den
    Leichnam – kaum fünfeinhalb Fuß vom Scheitel bis zur Sohle
    – zu berühren. Die Hülle bestand aus lauter glatten weißen
    Pferdelederflicken
    – Unmengen von Flicken,
    zusammengehalten von Tausenden von ›S‹-förmigen Nähten.
    Henry hatte den ganzen Schlafstrumpf aus gesäuberten,
    polierten und glattgestrichenen Lederhüllen ausgemusterter
    CVL-Bälle gestückelt. Manche der Lederstücke waren vom
    Infield-Boden verschmiert oder trugen Schlagnarben oder
    waren aufgerauht wie altes Veloursleder – doch im Schein von
    Henrys Kerzenlicht glänzte die Mumie wie Elfenbein. Das
    Schaurigschöne an diesem Anblick kraulte mir den Nacken.

    »Von Alaska aus zog ich mit meinem toten Schöpfer auf der
    Schulter (nachdem ich ihn Meilen von Ungpek aus einer
    vulkanischen Höhle geholt hatte) in den Bundesstaat
    Washington. Daniel, ich sehe den Helden Äneas vor mir, wie
    er seinen alten Vater Anchises aus den brennenden

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