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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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angestachelt hatten,
    Hoey aus einem Baum zu werfen und ihm dann die Zunge
    herauszureißen. Schließlich hatte ich das lange Comeback, das
    Henry nach seinem mehr als anderthalb Jahrhunderte
    zurückliegenden Alptraummarsch durch Europa bewerkstelligt
    hatte, gründlich vermasselt.
    »Daniel« – flüsternd –, »Daniel, darf ich hereinkommen?«
    »Klar. Wo bist du gewesen? Was machst du?«
    Henrys Sonntagshemd und sein schmutziger Overall troffen
    vor Nässe, doch dessen ungeachtet kletterte er über die
    Fensterbank und trat auf den Ventilator, den er eben erst
    runtergestoßen hatte. Mitten im Zimmer spreizte er die Arme
    und ließ das Wasser aus seinen durchweichten Ärmeln zu
    schimmernden Lachen auf den Boden tropfen.
    »Hab ich dir nicht versprochen, wir würden uns
    wiedersehen?« Die Leere unseres Zimmers – oder die von
    seiner Zimmerhälfte – ließ ihn verstummen, wiewohl er selbst
    dazu beigetragen hatte.
    »Henry, was willst du? Hier wird man dich fangen, und du
    landest hinter Gittern.«
    »Kein Gefängnis in Highbridge kann mich halten.«
    »Warum mußtest du Hoey umbringen? Was Hoey getan hat,
    war schon schlimm genug.«
    »Mein Brief… Ich wollte ihn nicht töten, ich wollte dich nur
    rächen. Als ich ihn verließ, war er stumm.«
    »Ein nettes Wort für ›tot‹, Henry.«

    »Komm mit – nicht für lange. Nur für ein paar Tage. Damit
    du siehst, wohin ich mich zurückgezogen habe.«
    »Ich fahre nach Hause. Ich habe ein Ticket.«
    »Manche haben so eine Fahrkarte. Manche nicht.«
    Bei diesen Worten ging mir ein Licht auf. Henry hatte Hoey
    ›stumm‹ gemacht um meinetwillen, eine scheußliche Art
    ausgleichender Gerechtigkeit. Er war mein Zimmergenosse
    gewesen. Ich konnte ihn kaum sehen, er war ein triefnasser
    Schemen im Dunkeln, doch ich nahm meine Krücken und
    stakte zu ihm hin und umarmte ihn. Meine Hände gingen in
    den steinharten Mulden rechts und links von seinem Rückgrat
    vor Anker. Er war zu mager zum Knuddeln und zu knorrig
    zum Anlehnen, aber ich hängte mich trotzdem an ihn, die
    Krücken polterten zu Boden.
    Die Glühbirne der Stehlampe machte ping und blendete unsere Augen. Der Ventilator, den Henry so gründlich
    mißhandelt hatte, begann am Boden herumzubaggern. Bei
    Licht sah Henry doppelt so groß aus, und der Ventilator
    machte zehnmal soviel Lärm wie sonst. Henry hielt mich mit
    einem Arm, zog den Stecker des Ventilators und löschte das
    Licht wieder.
    »Komm, Daniel, laß uns fliehen.«
    »Ich brauche nicht zu fliehen. Das ist nicht meine Zelle, und
    ich habe nichts verbrochen.«
    Henry schien von meinem Einwand nicht beeindruckt. Sogar
    im Dunkeln fand er, was er suchte, und drückte mir den
    Seesack in die Hände. »Pack ein.« Er half mir, die Sachen aus
    dem Pappschrank aufs Bett zu stapeln. Fein säuberlich. Er
    mußte Eulenaugen haben, zwei eingebaute Nachtgläser. Ich
    fing an zu packen. »Vergiß nicht die Notizbücher. Sie gehören
    zuunterst, beschirmt und beschützt.« Also kramte ich sie aus
    dem Schulpult neben dem Bett. Mit einer einzigen zielsicheren
    Armbewegung nahm Henry mir den Packen ab und barg ihn

    am Grund der Tasche. Ich packte meine Klamotten hinterher
    und obenauf meine Baseballausrüstung und stand endlich vor
    ihm, eine Krücke in der Achsel und den Sack über die Schulter
    geworfen wie ein GI oder vielleicht Santa Claus (zu dem die
    Krücke allerdings nicht paßte).
    »Aus dem Fenster, Daniel. Hinaus in den Regen und den
    Dschungel der Nacht.«
    Bei dem Unsinn blieb mir die Spucke weg. Ich tat einen
    einbeinigen und krückengestützten Hüpfer in Richtung
    Fenster. Zu meinem Erstaunen wartete auf dem obersten
    Absatz der Feuertreppe ein triefnasser Euclid, um mein
    Gepäck in Empfang zu nehmen und über die schlüpfrige
    Treppe nach unten zu befördern.
    »Euclid!«
    »Dalli«, sagte er. »Dalli-dalli. Mund halten und los jetzt! Ich muß zurück, bevor hell ist.«
    Auf leisen Sohlen – oder in meinem Fall mit klunkernden
    Krücken – und gebuckelt, als befürchteten wir, gesteinigt zu
    werden, ging es im aufgelösten Gänsemarsch die Feuertreppe
    hinunter und Hals über Kopf in einen blauen Studebaker, der
    nach Euclids Auskunft seiner Mama, Detta Rae Satterfield,
    gehörte. An der Windschutzscheibe steckte eine C-Zuteilung
    für Sprit (wie bei Colonel Elshtains Hudson Terraplane), nur
    daß ich nicht wußte, wieso, und auch nicht fragen wollte.
    Henry klabasterte mit meinem Seesack auf die Rückbank. Ich
    richtete mich vorne auf

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