Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
näher kam, fuhr ihr Kopf plötzlich hoch. Auf allen vieren kroch sie auf ihn zu wie ein ekelhaftes Insekt. »Du gehörst mir, Avi, jetzt und für immer.«
Er taumelte nach hinten, damit sie ihn nicht erreichen konnte. »Du bist noch genauso wie früher. Gib mir einfach, was ich haben will, und lass mich gehen.«
Bei jedem Wort, das er ihr entgegenschleuderte, fiel ihr Gesicht weiter ein. Ihre ohnehin schon zarte Haut wirkte inzwischen beinahe durchsichtig und spannte sich über den harten weißen Knochen ihres Schädels. Doch sie folgte ihm beharrlich.
»Was willst du?«, keuchte sie. »Verrate es mir, und es ist dein.«
Avi stolperte und landete mit einem dumpfen Knall auf den Dielen.
»Orens Erinnerungsbuch«, erwiderte er. »Ich weiß, wo er ist. Mit dem Buch könnte ich ihn retten.«
Arethusa erstarrte. Sie konnte sich kaum auf ihren mageren Gliedmaßen halten und schwankte im Dämmerlicht hin und her. »Ich habe das Buch nicht«, flüsterte sie. »Warum rettest du nicht lieber mich? «
»Ich möchte dir wirklich helfen«, wiederholte Avi. Und das entsprach auch der Wahrheit. Trotz allem, was sie ihm angetan hatte, war sie schließlich seine Mutter. Und dennoch … »Aber zuerst muss ich Oren finden.«
»Nichts …« Das Wort schien Arethusa in der Kehle stecken zu bleiben. Ihre Haut verwandelte sich in Glas, so dass Avi für einen schrecklichen Moment durch sie hindurchschauen konnte. Dann kippte sie nach vorne und griff mit einer skelettartigen Hand nach seinem Fuß. Die Hand zuckte noch einmal und rührte sich dann nicht mehr. Arethusa schien kaum noch zu atmen.
Avi sprang auf und stürmte die Treppe hinunter auf den Hof hinaus, wo Hannah ihn an der Schulter festhielt und zu sich herumdrehte.
»Avi!«, rief sie. »Was ist los?«
Er beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. Sein Mund war voller Staub. Als er versuchte, ihn auszuspucken, blieb ein bitterer Geschmack zurück.
»Was hast du gesehen?«, erkundigte Iritha sich sanft.
Avi schilderte ihnen, was oben im Zimmer geschehen war. »Ich hatte den Eindruck, dass sie vor meinen Augen verfiel«, meinte er. »Jetzt liegt sie auf dem Boden. Vielleicht ist sie sogar …«
»Tot?«, fragte Iritha. »Das bezweifle ich. Nicht, solange du hier bist.«
»Was soll das heißen?«, fragte Hannah.
»Arethusa ist eine Nymphe«, erklärte Iritha. »Und Nymphen ernähren sich von Liebe. Natürlich essen und trinken sie wie wir anderen auch, aber ohne Liebe siechen sie langsam dahin und sterben. Sie ist für sie lebenswichtig, ein Grundnahrungsmittel.«
Für sie ist es in gewisser Hinsicht wie eine Droge.
Plötzlich fühlte sich Avi wie an einen anderen Ort versetzt. Er war wieder am anderen Flussufer bei Iphigenia. Sein letzter Besuch bei seinem früheren Kindermädchen.
»Wie eine Droge«, wiederholte er ihre Worte von damals.
»Ja«, stimmte die Koboldin zu. »Und noch viel mehr. In den letzten Jahren hat Arethusa sich immer stärker an dich geklammert, Avi. An deine Liebe. Du warst viele Monate fort, und was noch schlimmer ist, aus freien Stücken. Du hast sie zurückgewiesen. Was du im Juwelenturm erlebt hast, ist das Ergebnis davon.«
»Soll das bedeuten, dass es meine Schuld ist?« Avi traute seinen Ohren nicht. Wie kam seine Mutter dazu, ihm eine solche Verantwortung aufzubürden? Und wie konnte sie von ihm erwarten, dass er sie nach allem, was sie ihm angetan hatte, immer noch liebte?
»Nein«, erwiderte Iritha rasch. »Es ist einzig und allein Arethusas Sache. Ihre Einsamkeit hat sie sich selbst zuzuschreiben, Avi. Das darfst du nie vergessen.«
Avi warf einen Blick auf den dunklen Eingang des Turms. »Ich hatte Mitleid mit ihr und wollte ihr helfen. Sie behauptet, Orens Erinnerungsbuch nicht zu haben, aber ich weiß, dass sie lügt. Wie soll ich eine Frau lieben, die nur sich selbst liebt?«
Iritha seufzte. »So war sie schon immer, Avi. Vor vielen Jahren gab es einmal eine Ära, die viele bis heute als das goldene Zeitalter bezeichnen. Damals regierten Arethusa und Kellen das Feenreich gemeinsam, so dass zumindest dem Anschein nach Frieden herrschte. Doch selbst da waren die beiden schon zerstritten. Kellen war seit jeher sehr ehrgeizig und stets darauf aus, seinen Machtbereich auszuweiten, während Arethusa eher konservativ veranlagt ist, nur ihre eigenen Interessen im Blick hat und will, dass alles beim Alten bleibt. Und dann erschien mein Bruder auf der Bildfläche.«
Avi spitzte die Ohren, als sie seinen Vater erwähnte,
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