Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
stehen. »Bring es mir bald zurück, Avi.«
Nachdem sie fort war, setzte Avi sich auf eine steinerne Bank. Hannah stand aufgeregt neben ihm und drückte ihm die Schulter.
Zwischen den Seiten, etwa kurz vor dem letzten Viertel, steckte eine schwarze Feder.
Bevor Avi das Buch aufschlug, fuhr er mit einem zitternden Finger den Buchrücken entlang und betastete die eingeprägte Beschriftung. In irgendeiner uralten Sprache bildeten diese Zeichen den Namen seines Vaters und waren vielleicht sogar der Schlüssel zu seinem Sein. Plötzlich fühlte sich das Buch in seinen Händen sehr schwer an.
Als er es an der Stelle öffnete, die Arethusa markiert hatte, ergriff der Wind die Feder und wehte sie über den gepflasterten Hof.
Der Text war in einer kleinen, gut lesbaren Schrift geschrieben. Bei seiner ersten Begegnung mit McNemosyne in der British Library hatte Avi beobachtet, wie diese Bücher entstanden. Seitdem schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Erinnerungen flössen wie Wasser, hatte McNemosyne ihm erklärt, hinunter in den Gewölbekeller, wo die Musen sie dann zu Papier brächten .
Zum ersten Mal schoss Avi durch den Kopf, dass diese Redewendung das Verfahren wirklich am besten wiedergab: Die Musen waren nicht die Verfasserinnen dieser umfangreichen Bücher, sondern lediglich die Schreibwerkzeuge.
Avi begann zu lesen und vertiefte sich immer weiter in die Geschichte, in der …
… Oren auf dem Gelände des Westminster Palace steht. Der Himmel ist dunkel, ein Unwetter tobt. Hinter ihm ragt eine Reihe ordentlich gestutzter Ulmen in den Himmel. Ihre Stämme sind von Ästen befreit, ihre hohen Kronen kurz gehalten, so dass sie steif und förmlich wirken. Die Abstände zwischen ihnen sind regelmäßig und genau so breit, dass ein Mann mit seitlich ausgestreckten Armen darin stehen kann.
Zwischen zweien der Bäume hat die Welt ein Loch.
Der Sturm wirbelt über dem Loch, und Oren stellt sich davor. Bei ihm ist ein von Kopf bis Fuß in Gelb gekleideter Mann. Er heißt Blink. Der Mann hat eine Glatze und einen spitz zulaufenden Kopf, der zu groß für seinen schlanken Hals zu sein scheint. Er weist auf das Loch. Seine Hände drücken und kneten die Luft wie die eines Töpfers, die unsichtbaren Ton bearbeiten. An einem seiner Handgelenke baumelt ein Lederriemen. Sein Gesichtsausdruck ist angestrengt und konzentriert.
»Ist es gefährlich?«, fragt Oren.
»Solche Unternehmen sind immer gefährlich«, entgegnet Blink. Seine Stimme klingt so angespannt, als könne sie jederzeit reißen.
Blink ist ein unangenehmer Zeitgenosse. Wie sein Bruder Fugit lebt er gleichzeitig in allen Welten und in keiner davon. Fugit hat die Macht, die Zeit zu beeinflussen, indem er sie beschleunigt oder verlangsamt. Mit Fugits Hilfe kann man die Welt erstarren lassen, nur um einen Regentropfen zu beobachten, der in der Luft hängt, oder um wie ein Steinchen über den Fluss der Jahre zu springen und zu sehen, was die Zukunft für einen bereithält.
Blink hingegen ist der Herr über den Raum.
»Ist es bereit?«, erkundigt sich Oren.
Blink knetet noch eine Weile die Luft. »Ja«, erwidert er schließlich.
Oren macht einen Schritt auf das Loch in der Welt zu.
»Warte!«
Eine hochgewachsene, schöne Frau kommt durch den Sturm auf Oren zugelaufen. Ihre nackten Füße berühren kaum den Boden. Ihr grünes Kleid hat ein enges Mieder und einen weiten Rock. Wie immer verschlägt ihr Anblick Oren den Atem.
»Arethusa!«, sagt er. »Ich hatte dich doch gebeten, nicht zu kommen!«
Direkt über seinem Kopf grollt der Donner.
Sie fällt ihm um den Hals. »Wenn du mich liebst, gehst du nicht!«
Er zieht sie an sich. Ihr Körper fühlt sich fiebrig an. »Ich liebe dich«, antwortet er. »Aber Kellen ist mein Gebieter. Ich muss ihn retten.«
»Es ist zu gefährlich.«
»Ich muss es trotzdem versuchen.«
Oren schiebt sie auf Armeslänge von sich. Trauer steht in ihrem schönen Gesicht. Er neigt sich ihr zu und küsst sie. Über ihren Köpfen kreist der Donner.
»Ich komme wieder, mein Liebling«, sagt er. »Ich verspreche es dir.«
Er lässt sie los, nimmt das andere Ende des Lederriemens an Blinks Handgelenk und bindet es sich selbst um. Nun sind sie aneinandergekettet. Er wirft Blink einen Blick zu, und dieser nickt. Dann springen sie gemeinsam in das Loch, das Blink in der Welt geöffnet hat. Das Loch wird sie nicht in die nächste Welt bringen, sondern in die Zwischenwelt, wo Kellen nun verloren und allein umherwandert. Das Déopnes.
Das Letzte, was Oren
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