Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
Wind nach: Ein unheimliches Schweigen entstand, in dem auch die Wellen sanfter wurden. Im nächsten Moment bemerkte Avi zu seiner Überraschung einen Schatten am Horizont.
Er rieb sich die Augen und hielt dann schützend die Hand darüber. Bald war der Schatten als Umriss eines Dreimasters zu erkennen. Oren, der in dieselbe Richtung schaute, rührte sich nicht einmal.
Avi rannte zum Ufer und schwenkte die Arme.
»Hallo!«, rief er. »Hier drüben! Wir sind hier drüben!«
Er hörte seinen Vater etwas sagen, doch die Worte gingen im Rauschen der Brandung unter. Avi zog das Kettenhemd aus und warf sich ins seichte warme Wasser. Als er nicht mehr stehen konnte, begann er zu schwimmen. Das Schiff war noch immer da und tanzte auf den Wellen. Avi kümmerte es nicht, wer sich an Bord befand. Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Oren weiterhin teilnahmslos im Sand kauerte.
Avi schwamm, als ginge es um sein Leben, und versuchte, den richtigen Rhythmus zu finden. Nach einigen kräftigen Zügen pflügte er durch eine Wand aus Schaum und sah das Schiff zum Greifen nah vor sich. Es ähnelte stark den Schiffen, die in der Zeitung abgebildet gewesen waren. Sein Rumpf war schwarz und mit Muscheln verkrustet. Die hellbraunen Segel hingen schlaff herab. Außerdem schwankte es auf den Wellen, als würde es jeden Moment kentern.
Hier war das Wasser kälter und die See rauh und dunkel. Allmählich taten Avi die Arme weh. Eine große Welle walzte auf ihn zu. Er wollte sich darauf treiben lassen, wurde aber von ihr ergriffen und herumgewirbelt. Wasser drang ihm in die Nase, und als er prustend auftauchte, wurde er schon von der nächsten Woge gepackt.
Er kämpfte weiter gegen den Seegang. Inzwischen hatte zu allem Überfluss eine Strömung eingesetzt, die ihn weg vom Schiff zog. Ein Schatten fiel auf ihn, und ein gewaltiger Brecher näherte sich. Avi hatte gerade noch Zeit, nach Luft zu schnappen, bevor das Wasser auf ihn einstürzte. Das Meer zerrte von allen Seiten an ihm und warf ihn hin und her. Vor seinen Augen bildeten sich Blasen und stoben auseinander.
Ein Gesicht erschien. Avi wich zurück, als eine Leiche auf ihn zutrieb. Der Tote hatte die Arme ausgestreckt. Seine Züge waren schmerzverzerrt. Im nächsten Moment bemerkte Avi weitere Leichen, die wie Geister aus der Tiefe aufstiegen. Sein Aufschrei wurde vom Meeresrauschen übertönt, und er ergriff die Flucht.
Er stieß gegen etwas Hartes. Als er den Kopf aus dem Wasser hob, prallte er mit dem Hinterteil dagegen, und ihm wurde klar, dass er sich wieder im Seichten befand. Eine letzte Welle spuckte ihn an den Strand. Keuchend lag er da, während das Wasser sich zurückzog. Die Welle machte ein Geräusch, das wie ein hämisches Kichern klang.
Avi rappelte sich auf und betrachtete, auf allen vieren kauernd, den Ozean. Das Schiff war fort. Wie war das möglich? Es war doch vor wenigen Sekunden noch da gewesen und konnte nicht einfach spurlos gesunken sein – jedenfalls nicht so schnell.
Avi wischte sich das Salzwasser aus den Augen und kroch zurück zu seinem Vater.
»Ich habe es dir ja gesagt«, meinte Oren. »Es gibt kein Entrinnen von dieser Insel und auch keinen Weg nach Hause.«
»Du hast es nicht einmal versucht«, wandte Avi ein. »Das Schiff war ganz nah.«
Oren lächelte geheimnisvoll. »Das Schiff kommt und geht. Es ist ein Irrlicht. Man kann es nicht erreichen. Es tanzt sogar in der Dunkelheit. Früher, als es auf der Insel noch Bäume gab, habe ich Holz gesammelt und Feuer gemacht. Aber es hat nichts genützt. Die Flammen haben mich nur ausgelacht, mir die Finger verbrannt und mir das Haar angesengt.«
Wieder ließ Avi den Blick über das Meer wandern. Eine Einöde aus Wasser, die unablässig an eine Sandwüste schlug.
» Früher, als es auf der Insel noch Bäume gab. Was hat das zu bedeuten?«
Als Oren zum ersten Mal seit Avis Ankunft aufstand, knirschten seine Gelenke wie ein alter Ledersessel. Er ruderte wild mit den Armen. Er hat völlig den Verstand verloren, dachte Avi. Und mir wird es hier genauso ergehen.
»Damals war die Insel riesengroß«, erklärte Oren. »Man brauchte mehr als einen Tag, um sie zu überqueren. Rote Palmen, aber zu hoch zum Hinaufklettern. Kokosnüsse, die in ihren Kronen baumelten, aber nie herunterfielen. Blaue Sträucher ohne Beeren, aber dafür mit Tausenden tödlicher Dornen. Da waren wilde Tiere. Wirklich wilde! Und eine Flut.« Er sprang mit ausgestreckten Armen auf und nieder. »Daran hat sich nichts
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