Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
Zwischenwelt alle möglichen Meeresungeheuer herumtreiben.
»Wahrscheinlich eher eine Meerjungfrau. Moment – kein Schwanz!«
Mit einer beiläufigen, aber kraftvollen Bewegung drehte Oren das fremde Wesen um, das sofort zu husten anfing und dann den Kopf zur Sonne hob.
Avi blieb wie angewurzelt stehen. Das konnte doch nicht sein! Er rannte los.
»Hannah?«, rief er. »Mein Gott, Hannah!«
Was er für das silbrige Fell eines Seehunds gehalten hatte, war in Wirklichkeit ihr Kettenhemd. Und bei dem Büschel Seetang handelte es sich um ihren leuchtend roten Haarschopf. Avis Herz klopfte so heftig, dass es ihm den Brustkorb zu sprengen drohte.
»Kennst du dieses Stück Treibgut?«, fragte Oren.
Wieder wurde Hannah von einer Welle getroffen und umgeworfen. Avi lief zu ihr hinüber, fiel auf die Knie und nahm sie in die Arme. Sie lehnte sich keuchend und prustend an ihn, worauf er sie fest an sich drückte.
»Was tust du hier?« Einerseits war er außer sich vor Freude, sie zu sehen, andererseits wütend, weil sie ihm gefolgt war. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
»Wir haben uns nie richtig verabschiedet«, stieß sie hervor. Tränen traten ihr in die Augen, als sie ihm einen salzigen Kuss auf die Lippen drückte. Eng umschlungen kauerten sie da, während das Meer auf sie einstürmte, bis es ihnen über die Knie reichte und sie beinahe umriss.
»Hinauf ins Krähennest!«, verkündete Oren, der sich auf den höchsten Punkt der Insel zurückgezogen hatte. »Es geht los.«
Avi nahm Hannahs Hand und zog sie aus dem Wasser. Die Wellen liefen ihnen hinterher.
»Du hast gesagt, es sei Wahnsinn, hierherzukommen«, meinte er. »Du hattest recht.«
»Du wolltest deinen Vater retten. Und jetzt rette ich dich.«
»Du hast mich geschubst.«
»Du hattest es verdient.«
Ein Wind wehte über den Strand, und die Wellen wurden glasig und dunkel. Avi bekam eine Gänsehaut, als die Sonne verblasste.
»Mit dieser Insel ist es bald aus und vorbei«, stellte er fest.
Der Sand unter seinen Füßen fühlte sich schwammig und morastig an und versuchte, ihn einzusaugen. Hannah stützte ihn, und sie kämpften sich zu Oren auf den Hügel hinauf.
Das Meer kroch ihnen unerbittlich nach, und jede Welle war größer als ihre Vorgängerin. Der Wind frischte zu einem Sturm auf. Inzwischen hatte die Insel nur noch die Größe eines Tennisplatzes.
»Ich kapiere nicht ganz!«, rief Hannah. »Was passiert denn hier?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, erwiderte Avi. »Die Insel geht unter.«
Als Hannah weitersprach, verwehte der Wind ihre Worte.
»Was hast du gesagt?«, übertönte Avi das Brausen.
»Sie hat gesagt, dass sie dich liebt«, antwortete Oren. Obwohl das Meer sie immer mehr umzingelte und sie auf einer bröckeligen Sandburg standen, schien er sich keine Sorgen zu machen. »Allerdings ist es dafür jetzt zu spät.«
Hannah schrie noch etwas und zeigte dabei aufs Meer hinaus. Avi blickte ihrem Finger nach und sah nur knapp hundert Meter entfernt das Segelschiff durch die Wellen pflügen. Seine Segel waren sauber, gebläht und ordentlich gerafft. Der Rumpf, inzwischen frei von Muscheln, glänzte golden im Sonnenlicht.
Im nächsten Moment geriet der Sand unter Avis Füßen heftig ins Rutschen, und Wellen umspülten seine Knöchel, so dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Die nächste Welle reichte ihm bis an die Knie, aus der übernächsten sprühte Gischt auf seine Brust. Schließlich war die Insel völlig überflutet und nur noch undeutlich unter der Wasserfläche auszumachen.
»Komm!«, meinte er zu Hannah. »Wir müssen es versuchen.«
Avi schwamm los und steuerte, ohne nachzudenken, auf das Schiff zu, obwohl er wusste, dass es zwecklos war.
Der immer kräftiger werdende Wind peitschte das Meer zu hohen schaumgekrönten Brechern auf. Der Himmel verdunkelte sich, und die Sonne verschwand hinter dichten, düsteren Wolken. Oren trat Wasser, ohne sich von der Stelle zu rühren.
»Mach schon, beeil dich!«, rief Avi, doch sein Vater schien ihn nicht zu hören. Plötzlich zog eine gewaltige Woge Avi in ein Wellental hinunter, so dass er Oren aus den Augen verlor. Als ein Wellenkamm ihn wieder nach oben schleuderte, sah er Hannahs Haar in einem anderen Brecher. Von seinem Vater fehlte jedoch jede Spur.
Noch einmal zog ihn das Meer hinab. Wasser schlug über seinem Kopf zusammen und riss ihn in die Tiefe. Er kämpfte sich zurück an die Oberfläche und bemerkte die Gesichter der verlorenen Seelen, die aus der Tiefe
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