Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
war, verschlug ihm der Anblick seiner Mutter dennoch den Atem.
Arethusa wirkte wie eine Tote. Ihre Haut spannte sich über den Knochen, und ihr Gesicht lag im Schatten, Avi konnte durch ihren Körper die Kissen ausmachen, auf denen sie ruhte. Sie war ein Phantom, ein schwächliches Geschöpf und ohne die geringste Ähnlichkeit mit der Feenkönigin, die ihn früher in den Armen gehalten und ihm gesagt hatte, dass sie ihn liebte.
Falls Oren ebenso erschrocken war wie Avi, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er war nach Tyrian von Bord gegangen und näherte sich nun Arethusas Sänfte. Mittlerweile herrschte Totenstille, nur durchbrochen von Arethusas rauhem, flachem Atmen.
Vor der Sänfte blieb Oren stehen, beugte sich langsam aus der Taille vor und berührte Arethusas Stirn mit den Lippen. Alle schwiegen.
Arethusa hob den Kopf ein winziges Stück vom Kissen. Als sie blinzelte, waren ihre Augenlider wie hauchdünnes Pergament. Ihr Mund öffnete sich, und sie tat einen tiefen Atemzug, der eine Ewigkeit zu dauern schien. Beim Luftholen wurde ihr Körper von in regenbogenartigen Wellen pulsierender Farbe durchströmt. Er rundete sich und entwickelte Kurven. Gleichzeitig begann ihr Kleid zu schimmern wie mit silbernem Puder bestäubt.
Allmählich verblassten die farbigen Wellen. Arethusa saß aufrecht da, strahlte übers ganze Gesicht, seufzte und breitete die Arme aus. Ohne auf sein zerzaustes Äußeres zu achten, kniete Oren sich auf die Kissen und küsste seine Königin ausgiebig auf die Lippen. Arethusa schloss die Arme um ihn.
Gebannt beobachtete Avi die Genesung seiner Mutter. Er hatte ganz vergessen, wie schön sie war. Genau genommen hatte er sie noch nie so bezaubernd erlebt.
Möglicherweise hat sie es ja verdient, geliebt zu werden, wenn es eine solche Wirkung auf sie hat, sagte er sich.
Hannah drückte seinen Arm. »Vielleicht wird jetzt endlich alles gut.«
Aber Avi brauchte sich nur Tyrians missbilligende Miene anzusehen und an Irithas Leiche zu denken, die kalt an Bord der Barke lag, um zu wissen, dass diese Hoffnung verfrüht war.
Kapitel 31
I m Palast wurden sie von einer großen Menge aufgeregter Höflinge erwartet. Arethusa, die ihre Sänfte am Anlegeplatz stehen gelassen hatte, kam an Orens Arm hereingerauscht. Avi und Hannah hielten so gut wie möglich Schritt, obwohl sie ständig in Gefahr schwebten, im Gedränge den Anschluss zu verlieren.
Tyrian war in seinem Element. Er hielt den Weg frei, kommandierte alle herum und wies die Dienstboten an, den Saal für ein Bankett vorzubereiten. Avi fiel auf, dass der Majordomus die Genesung der Königin, nicht etwa Orens Rettung, als Anlass für das Fest nannte.
Arethusa sonnte sich in der Aufmerksamkeit, schritt majestätisch durch die Menge und gestattete ihren Untertanen, die Ringe an ihren Fingern zu küssen oder sich vor ihr in den Staub zu werfen. Da immer mehr von ihnen herbeiströmten, verwandelte sich das Stimmengewirr bald in ein Brausen.
Als die königliche Prozession endlich die Tür zum großen Saal erreicht hatte, blieb Arethusa stehen und hob die Hände. Alle verstummten.
»Meine treuen Untertanen«, begann sie. Ihre dunkle, wohltönende Stimme floss wie Sirup. »Wir danken euch dafür, dass ihr unsere Freude mit uns teilt. Heute ist ein Glückstag, einer der glücklichsten, den wir in diesen schweren Zeiten erleben durften. Jemand, der verloren war, ist zu uns zurückgekehrt. Ich bitte euch alle, euch zum Dank für dieses Wunder zu verneigen.«
Gehorsam senkten sich die Köpfe.
Tyrian scheuchte Avi und Hannah zwischen zwei Reihen von Wachen hindurch in den Saal. Nachdem sie eingetreten waren, nickte er den Feen an der Tür zu, worauf diese sie schlossen. Kurz bevor die beiden Türflügel einander trafen, huschte ein blaues Licht herein. Brucie flatterte zu den Deckenbalken hinauf.
Oren war bereits mit Arethusa, die nickte und die Lippen schürzte, in ein leises Gespräch vertieft. Sie wandte sich zu Tyrian um und bedeutete ihm mit einem Blick, näher zu treten. Der Feenmann glitt zu ihnen hinüber. Immer wieder schauten alle drei Avi und Hannah an. Einmal schüttelte Tyrian den Kopf, und Arethusa wirkte besorgt.
»Hattest du je das Gefühl, dass über dich geredet wird?«, meinte Hannah.
Avi nahm sie an der Hand und marschierte auf seine Eltern und Tyrian zu.
»Avi, nein …«, zischte Brucie und kam zu ihm hinuntergeschwebt.
Tyrian blickte ihnen entgegen und runzelte missbilligend die Stirn. »Herr, wenn es dir
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