Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
krächzte Pennie, landete auf der Brüstung und gähnte.
»Bestens«, erwiderte Avi. »Wir wollen sehen, wie es Iritha geht.«
»Iritha?«, wiederholte Oren. Er runzelte die Stirn, als kenne er zwar den Namen, aber nicht die dazugehörige Person.
»Deine Schwester«, erklärte Hannah.
Oren blickte träumerisch in die Ferne, schüttelte langsam den Kopf und flüsterte den Namen vor sich hin.
Angeführt von Avi machten sie sich auf den Weg durch ein Seitentor und auf die Straße, die über die Brücke verlief. Drei Steinstufen endeten am Hintereingang der Kapelle. Pennie hüpfte vor ihnen her.
Im Inneren der Kapelle war es dunkel. Die Kerzen waren erloschen, und Nebel waberte vor den Scheiben des schmalen Fensters.
Die beiden alten Männer des Orakels standen zu beiden Seiten des Korbs mit der grünen Decke.
»Du bist zurück«, stellte das rote Orakel fest. »Das freut uns.«
»Wir dachten, du wärst für immer fort«, ergänzte das andere, wie Avi fand, nicht sehr begeistert.
Iritha lag, die Hände auf der Brust gefaltet, auf dem Rücken auf einer niedrigen Bahre im hinteren Teil der Kapelle. Sie sah sehr friedlich aus, als schliefe sie tief und fest. Auf dem Boden war eine Blutspur zu erkennen. Offenbar hatte sie sich selbst dorthin geschleppt.
Avi näherte sich besorgt. Obwohl er aus dem Augenwinkel seinen Vater wahrnahm, der zögernd hinter ihm im Schatten verharrte, galt seine ganze Aufmerksamkeit seiner Tante. Sie hatte ihn und Hannah nach St. Paul’s gebracht und sie vor Levi und seinen Goblins gerettet. Es war ihr eine Herzensangelegenheit gewesen, ihren Bruder aus seinem Exil in der Zwischenwelt zu befreien.
Vorsichtig umfasste er ihr Handgelenk, das sich kalt und starr anfühlte. Avi bekam einen bitteren Geschmack im Mund und schluckte. Als er den Puls fühlen wollte, konnte er keinen entdecken. Er legte die Wange an ihre Lippen und wartete, spürte jedoch auch keinen Atem. Ihre Brust bewegte sich nicht. Ihre geschlossenen Augenlider blieben reglos.
Mit zitternden Knien wich Avi von der Bahre zurück. Hannah legte ihm die Hand auf die Schulter, aber er nahm es kaum wahr.
Iritha war tot.
»Sie hat mich gebeten, dir zu folgen«, sagte Hannah. »Sie war sicher, dass sie so lange durchhalten würde.«
»Warum habt ihr nichts unternommen?«, schrie Avi die Orakel an.
Die Orakel wechselten Blicke, als erschiene ihnen diese Vorstellung völlig abwegig. »Warum sollten wir?«, antworteten sie im Chor.
Oren trat neben Avi. Die beiden – Iritha in ihrem seidenen Gewand und Oren in seinen Lumpen – unterschieden sich auf den ersten Blick zwar sehr, doch ihre Gesichter ähnelten sich stark. Für Avi stand außer Frage, dass sie Zwillinge waren.
Wie Avi zuvor streckte Oren eine bebende Hand nach Irithas Handgelenk aus. Sobald er sie berührte, begann er zu zucken, und Wellen durchströmten seinen Körper von Kopf bis Fuß. Er verwandelte sich zuerst in einen Löwen, dann in einen Ozelot und schließlich in eine Eule. Jede Gestalt war nur flüchtig, ein gespenstisches Echo der Formen, in denen seine Schwester zuletzt aufgetreten war.
Erschaudernd wurde er wieder zum Kobold, bückte sich und küsste Irithas kalte Stirn.
Als er sich wieder aufrichtete, bemerkte Avi, dass in ihm eine Veränderung vorgegangen war. Trotz seiner traurigen Miene wirkte sein Gesicht bei weitem nicht mehr so eingefallen. Sein Blick war zwar bedrückt, aber das wahnwitzige Funkeln war verschwunden.
»Sie ist gestorben, weil sie uns gegen Levi und seine Goblins verteidigen wollte«, erklärte Avi.
Oren wandte sich zu ihm um. »Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.«
Avi wusste nicht, ob er Oren umarmen sollte. Obwohl sie inzwischen sicherlich viel zusammen durchgemacht hatten, wogen die verlorenen Erinnerungen zu schwer. Dieser Mann war zwar sein Vater, aber was hatte dieses Wort zu bedeuten, wenn man nicht auf ein gemeinsames Leben zurückblicken konnte? Also entschied er sich für ein Nicken, in der Hoffnung, dass es seine verwirrten Gefühle ausdrücken würde – Erleichterung, Unsicherheit und eine aus ferner Zeit geschuldete Treue. Oren lächelte, und sein Blick verriet Avi, dass er sich auch erst an seine neue Rolle gewöhnen musste.
Zögernd ging Avi zu dem Korb zwischen den Orakeln hinüber und fragte sich, was er wohl zu sehen bekommen würde. Als er über den Rand spähte, stellte er fest, dass der Korb leer war. Von dem dritten Orakel war nur noch ein Abdruck im Kissen übrig.
»Was ist mit ihm
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