Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
vertrauten Türme des Westminster Palace. Hier hatte sich der Nebel fast vollständig gelichtet, und das Palastgelände lag im Schein einer dunstigen Nachmittagssonne. Während die Barke auf ihren Landeplatz am Fluss zusteuerte, kamen einige Feensoldaten mit grünen Fahnen aus der Garnison und marschierten in Reih und Glied auf den Landeplatz zu. In ihrer Mitte ging eine Abteilung von Arethusas Leibgarde, die eine vergoldete Sänfte trug.
Avi, der sich inzwischen ein wenig ausgeruhter fühlte, schob vorsichtig Hannahs Kopf von seiner Schulter und ging zur Reling. Oren stellte sich neben ihn. Tyrian, der das Ausfahren der Rampe beaufsichtigte, betrachtete die beiden mit unverhohlenem Argwohn.
»Was wird sie von mir halten?«, meinte Oren. »Schau nur, wie ich aussehe.«
Avi musterte Orens zerlumpte Kleider, sein verfilztes Haar, den Bart, das verkrustete Gesicht und die schmutzigen Hände. Im nächsten Moment fingen sie beide an zu lachen. Als Avi wieder Luft holen konnte, bemerkte er, dass sich Tyrians Misstrauen in Empörung verwandelt hatte. Irgendetwas lag hier im Argen, auch wenn er es sich nicht erklären konnte.
Orens Miene wurde ernst. »Bevor Iritha starb, hatte sie noch etwas Wichtiges vor«, sagte er. »Was war es?«
Avi erinnerte sich daran, wie sein Vater Irithas Leiche berührt und wie sein Körper ihre letzten Verwandlungen nachvollzogen hatte. Was hatte sie ihrem Zwillingsbruder in diesen eigenartigen Sekunden sonst noch mitgeteilt?
»Sie wollte dich finden«, erwiderte er.
Oren presste die Lippen zusammen. »Auch in dir lodert etwas«, stellte er fest. »Ich erkenne es an deinen Augen.«
Avi nickte, wandte sich um und starrte auf den Fluss. Das andere Ufer schien verlassen, und er nahm Umrisse wahr, bei denen es sich möglicherweise um Ruinen handelte. Wie mochte Battersea in dieser Welt wohl sein? Durin hatte ihm erzählt, es sei eine Insel, richtig?
»Steckt Kellen dahinter?«, erkundigte sich Oren.
Die Barke hielt an und schien in einem Luftpolster zu versinken.
»Er baut eine Brücke«, antwortete Avi.
Oren nickte. »Davon redet er schon seit vielen Jahren. Kellen konnte sich noch nie mit diesem einen Reich begnügen.«
»Und dennoch hast du ihm treu gedient«, mischte sich Hannah ein, die sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte.
»Wir alle sind König und Königin treu ergeben«, entgegnete Oren. »Das verlangt die Tradition.«
Avi lagen so viele Fragen auf der Zunge, doch er vermutete, dass die Antworten sehr schmerzlich ausfallen würden. Hatte er aus Treue ein Verhältnis mit Arethusa angefangen? Warum hatte er sich nach der Trennung auf Kellens Seite geschlagen? Allerdings zählte nur, dass Oren ihn an jenem Abend im Globe Theatre vor den anderen Kundschaftern gerettet und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte.
»Und welche Abmachung hat er mit den Elfen getroffen?«, wollte Oren wissen. »Ohne sie ist eine künstliche Brücke nämlich nicht möglich.«
Avi blickte Hannah an. War er wirklich ahnungslos? Hatte er nichts von dem grausigen Gemetzel in der Burg bemerkt?
»Er hat sich die Abmachung gespart und sie stattdessen eingesperrt und ihnen die Flügel abgeschnitten«, erklärte Avi.
Oren erbleichte sichtlich. »Du musst dich irren.«
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, entgegnete Avi ungehalten. Er berichtete von den Elfenrebellen im Wald, von Battersea und von Brucies Schicksal.
»Sie hatte es schon immer faustdick hinter den Ohren«, meinte Oren. »Was ist mit ihrem Bruder? Bevor ich in die Zwischenwelt geraten bin, war er oberster Botschafter der Elfen.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Avi. »Im Augenblick scheint Foster zu tun, was ihm gefällt.«
Oren schlug auf die Reling. »Man muss Kellen aufhalten. Wir dürfen nicht zulassen, dass er die Elfen ausrottet.«
Avi spürte, wie wieder Wut in ihm aufstieg. »Dann haben wir nicht mehr viel Zeit. Die Brücke war beinahe …«
Er wurde von den dumpfen Schritten von Arethusas Feensoldaten unterbrochen, die gerade an Bord kamen.
»Wir sprechen später weiter darüber«, sagte Oren. Er trat ein Stück beiseite, straffte die Schultern und ließ sich von den Soldaten wegführen. Hannah und Avi folgten in einigem Abstand.
»Was passiert jetzt?«, flüsterte sie.
»Wahrscheinlich ein Wiedersehen«, antwortete er.
Tyrian marschierte die Rampe hinunter und auf die Sänfte zu, wo er mit einer eleganten Bewegung den goldenen Vorhang wegzog, der die Insassin verbarg. Obwohl Avi auf das Schlimmste gefasst gewesen
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