Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
keinen Durchbruch gegeben, sondern nur einige Detailverbesserungen. Das ist aber kein Grund, die Vision eines einfacheren, niedrigeren und gerechteren Steuersystems insgesamt aufzugeben – im Gegenteil muss eine Partei weiter darauf drängen. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, die Rolle von Steuervermeidungsstrategien durch klare und für jeden nachvollziehbare Regeln zu begrenzen. Ein einfaches Steuerrecht stärkt auch unternehmerische Entscheidungen. Die sollten aus dem Glauben an eine Idee getroffen werden und nicht aus steuerrechtlichen Gründen. Das gab es ja schon: Nach der deutschen Einheit wurde beispielsweise unendlich viel Geld in die Sanierung von Schrott-Immobilien in den neuen Ländern investiert – nur aus Sehnsucht nach steuerlich verwertbarem Verlust.
GENSCHER
Das ist ein Negativbeispiel. Die Steuer ist für mich dennoch ein marktkonformes Lenkungsmittel, wenn man es mit Bedacht einsetzt. Ich nenne ein Positivbeispiel: Am Ende des Zweiten Weltkriegs war Deutschland weitgehend zerstört, es fehlte Wohnraum. Wie konnte man erreichen, dass das zur Verfügung stehende Kapital sich stark konzentriert auf den sozialen Wohnungsbau? Damals gab es den berühmten Paragraphen 7 b, der praktisch ein gigantisches Wohnungsbauprogramm in Gang gesetzt und damit eine gesellschaftlich erwünschte Problemlösung angeboten hat. Nicht der Staat baute, sondern der Staat gab den Menschen die Chance zu bauen, um ein Ziel zu erreichen: dass jeder wieder ein Dach über dem Kopf hatte und auch menschenwürdig untergebracht wurde. Und Arbeitsplätze in großer Zahl entstanden obendrein. Genauso hat man damals den Schiffbau angekurbelt und anderes. Man muss nur aufpassen, dass von solchen Maßnahmen nicht der Grundsatz der Steuergerechtigkeit verletzt wird und man muss dafür sorgen, dass sie beendet werden, wenn der Anlass für ihre Einführung entfällt.
LINDNER
Abgesehen davon – für mich ist die Vereinfachung des Steuerrechts nur
ein
Projekt. Alle Rechtsquellen – Arbeitsrecht, Mietrecht, Steuerrecht und andere –, mit denen die Bürgerinnen und Bürger im Alltag zu tun haben, sollten aus dem Gesetzestext heraus für jedermann verständlich formuliert sein. Wie wäre es, wenn der Deutsche Bundestag in jeder Legislaturperiode eines dieser Gesetzbücher straffen und vereinfachen würde?
Ein Lob der Agenda-Politik Schröders!
GENSCHER
Das wäre wahrlich eine Vision. Ich will nun aber noch über ein anderes Feld sprechen. Wir leben in einer Zeit, in der nicht mehr die über Jahrzehnte überschaubaren Berufsbilder gelebt werden. In meiner Jugend ergriff jemand einen bestimmten Beruf und konnte genau abschätzen, wie es weitergehen wird. Ob er Beamter, Angestellter oder Handwerker war, ob er Mittelständler war oder Manager, es gab ein im Grunde feststehendes Berufsbild. Das sieht in Ihrer Gegenwart, Herr Lindner, ganz anders aus. Jeder sieht sich mit ständig neuen Herausforderungen, Wahlmöglichkeiten, aber auch Veränderungen im Beruf konfrontiert – aber es eröffnet auch neue Chancen.
LINDNER
Flexibilität wird heute von allen gefordert, die im Wirtschaftsleben stehen: So wenig wie die Menschen sich heute darauf verlassen sollten, ein ganzes Erwerbsleben in einem Beruf bei einem Arbeitgeber beschäftigt zu sein, so sehr sind auch Unternehmen einem ungekannten Innovations- und Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Der Arbeitsmarkt ist zudem geteilt. Die einen müssen um eine berufliche Existenz kämpfen, um darauf ein Leben aufbauen zu können. Das sind vielfach diejenigen, die eine geringe Qualifikation haben und vom wirtschaftlichen Wandel besonders betroffen sind. Auf der anderen Seite wächst bei vielen der Wunsch, die eigene Biographie selbstbestimmt zu gestalten – von Familienphasen mit Teilzeitbeschäftigung, über den Wunsch nach einer längeren beruflichen Freistellung, dem »Sabbatical«, bis hin zum flexiblen Übergang in den Ruhestand. Ich gehe davon aus, dass diese Wünsche nach individueller Lebensführung weiterwachsen – und das begreife ich als einen begrüßenswerten Schritt der Emanzipation. Zugleich ist es für alle ein Grundbedürfnis, in ihrem Leben eine gewisse Planbarkeit und Verlässlichkeit zu haben. Eine Herausforderung der Arbeitsmarktpolitik ist also: Die Versöhnung der allseits wachsenden Flexibilitätsanforderungen mit dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen.
GENSCHER
Hier liegt eine große Chance und zugleich eine große Aufgabe für die liberale Politik in unserer sozialen
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