Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
alles »Sozialabbau« war. Ich wage, das trotz des gewachsenen Niedriglohnbereichs zu sagen. Zu oft werden mir diese Arbeitsverhältnisse kritisiert, weil sie angeblich sozial ungerecht seien. Man muss dabei sagen: Wer hier beschäftigt ist, wäre zuvor oft ohne Arbeit gewesen. Eine erste Beschäftigung mit Aufstiegsperspektive, eine Struktur im Alltag, das Gefühl dabei zu sein – das ist besser als Arbeitslosigkeit. Arbeit ist nicht nur Einkommen, sondern auch Identität und Sinn. Zur Sozialen Gerechtigkeit gehört deshalb zuerst die Beteiligungsgerechtigkeit, das Recht auf Teilhabe am Arbeitsmarkt.
Die »Agenda 2010 « teilweise wieder zurückzudrehen, wie das in der aktuellen Machtauseinandersetzung um die Bundestagswahl von SPD und Grünen gefordert wird, wäre auch aus diesem Grund falsch. Diese Ansätze sollten stattdessen weiterentwickelt werden, also nicht Orientierung zurück, nicht sozial restaurativ, sondern sozial innovativ. Ich will dafür ein aktuelles Beispiel nennen: die verlängerte Zahlung des Kurzarbeitergeldes in Konjunkturkrisen. Das zeigt, wie man Sicherheit für Arbeitnehmer mit der Rücksichtnahme auf die betriebswirtschaftlichen Erfordernisse von Unternehmen verbinden kann. Zukünftige Veränderungen sollten in diesem Sinne als Tausch angelegt werden: zusätzliche Flexibilität hier, neue Formen von Sicherheit dort. Das würde die Menschen mitnehmen, denn sie erkennen doch, dass der Arbeitsmarkt und auch die Welt im Wandel sind. Sie wollen nur nicht allein gelassen werden. Die Mehrheit war und ist bereit zur Veränderung, aber man muss den Menschen auch zeigen, dass sie den Anforderungen des Marktes nicht schutzlos ausgeliefert sind.
GENSCHER
Das teile ich. Wo würden Sie denn im Interesse der Beschäftigten konkret ansetzen?
LINDNER
Für mich stellt sich die Frage, in wieweit wir noch die Mitverantwortung des Arbeitgebers für die Qualifikation seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärken können. Zunächst ist das natürlich eine Frage der Eigenverantwortung – das will ich nicht relativieren. In der Wissensgesellschaft ist der Verlust von Qualifikation ein neues Risiko, das neben Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Unfall steht. Wer über viele Jahre die Qualifikation der Beschäftigten nutzt, aber irgendwann feststellt, dass sie nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind und er sie nicht mehr gebrauchen kann, der handelt verantwortungslos. Die Qualifikation und damit die Arbeitsmarktfähigkeit der eigenen Belegschaft auf der Höhe der Zeit zu halten, ist gleichermaßen im langfristigen eigenen und gesellschaftlichen Interesse.
Der bisherige Bildungsurlaub ist nach allem, was ich höre, nicht praktikabel. Er wird der Herausforderung »Lebenslanges Lernen« nicht gerecht. Es trägt auch nicht zur Popularität am Arbeitsplatz bei, wenn jemand darum bitten muss. Diskutieren könnte man eine Selbstverpflichtung der Tarifpartner, eine Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung in Bezug auf den Präventionsgedanken, an verbindlichere Freistellungsmöglichkeiten oder an ein gemeinsames »Bildungssparen« von Arbeitnehmern und Arbeitgebern –, aber ich bekenne mich ausdrücklich dazu, hier noch keine fertige Lösung im Sinne unserer Verantwortungswirtschaft im Gepäck zu haben.
Grundregeln gegen das Auseinanderbrechen des Arbeitsmarktes
GENSCHER
Auch der Staat könnte sich daran beteiligen, indem er die während Schul- und Semesterferien freistehenden Kapazitäten in Berufs- oder Hochschulen zur Verfügung stellt. In anderen Ländern sind »Summer Schools« längst etabliert. Ich will aber noch einen anderen Problembereich ansprechen, den Sie eben bereits erwähnt haben, als Sie von denjenigen sprachen, die um eine berufliche Basis kämpfen müssen.
LINDNER
Prekäre Beschäftigung, Zeitarbeit, Niedriglohnbereich …
GENSCHER
Ja. Sollten nicht auch wir Liberale hier nachdenken über Grundregeln, die ein Auseinanderfallen des Arbeitsmarktes begrenzen?
LINDNER
Wir müssen, Herr Genscher. Das ist eine Frage der Leistungsgerechtigkeit, die viele Menschen bewegt. Für mich heißt das zum einen, dass jeder von den Ergebnissen seiner individuellen Schaffenskraft profitieren sollte. Bei mittleren Einkommen greift der Fiskus durch die stark steigende Progressionskurve sehr stark zu – bereits die Inflation führt zu Mehrbelastung durch die sogenannte kalte Progression. Wenn dadurch der Staat mehr von einem Aufschwung profitiert als diejenigen, die ihn
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