Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
erarbeitet haben, ist das nicht fair. Auch die aktuellen Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz sehe ich kritisch. Betroffen sind davon alle, die etwa das 1 , 4 -Fache des Durchschnittsverdienstes erzielen. Das ist nicht die Champagner-Etage der Gesellschaft – das sind der Mittelstand und die qualifizierten Angestellten. Wenn hier deutlich erhöht wird, steigt die Grenzbelastung irgendwann auf über 50 Prozent. Mehr von seinem Erfolg abgeben müssen, als man behalten darf – das widerspricht meinem Verständnis von Leistungsgerechtigkeit. Ganz abgesehen davon, dass volkswirtschaftlich eine Schwächung des Mittelstands schädlich ist. In diesen Fragen ist das Urteil der FDP klar und nachvollziehbar, wie ich finde.
Aber nun kommen wir zur anderen Seite des Arbeitsmarktes, die Sie ja explizit ansprechen. Wenn viele Menschen für sehr niedrige Löhne arbeiten, mit denen sie nicht den eigenen oder den Unterhalt der Familie bestreiten können, dann kann das niemanden kalt lassen. Es widerspricht auch der Leistungsgerechtigkeit, wenn jemand fleißig und engagiert ist, dennoch aber dauerhaft auf Solidarität angewiesen bleibt. Hier besteht kein Anlass zu Orthodoxie, denn der marktwirtschaftliche Charakter der FDP basiert nicht darauf, jede Art von Regulierung etwa in der Form von Lohnuntergrenzen pauschal abzulehnen. Das widerspräche auch dem konkreten Regierungshandeln, denn wir haben ja etwa im Bereich der Pflegeberufe einen Mindestlohn ermöglicht. Ich glaube zudem, dass die Klage über fehlende Mindestlöhne teilweise genauso politisch überzeichnet ist wie die Warnung vor den Verheerungen, die eintreten würden, gäbe es Lohnuntergrenzen. Beide Lager sind ideologisch hochgerüstet. Dabei geht es im Kern nur darum, in bestimmten Bereichen Grundregeln durchzusetzen.
GENSCHER
Ich denke, dass für ein Land wie Deutschland, das sich als sozialer Rechtsstaat versteht, gelten sollte, dass ein Vollzeiteinkommen ausreicht, um davon leben zu können. Dieses Minimum muss also von einem normalen Arbeitspensum gesichert sein. Es kann und sollte auch mehr werden. Denn für eine menschenwürdige Gesellschaft muss selbstverständlich sein, dass jemand, der in Vollzeit arbeitet, auch seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Das heißt aber nicht, die Tarifhoheit auszuhebeln, denn sie ist ein wichtiges, weil erfolgreiches Element des deutschen Arbeitsmarktes.
LINDNER
Ich erlaube mir den nur ergänzenden Hinweis, dass es kompliziert wird, sobald eine Familie mit Kindern ins Spiel kommt. Dann ist der Anspruch auf Sozialleistungen mitunter so hoch, dass ein entsprechender Mindestlohn bei einem Arbeitnehmer eine Höhe haben müsste, die tatsächlich zu einem Arbeitsplatzabbau führen würde. Auch bei Auszubildenden und Menschen mit großen Einstellungshemmnissen, denken wir an die Langzeitarbeitslosen, könnte eine Lohnuntergrenze zu einer unüberwindlichen Hürde werden. In diesen Fällen bietet sich eine Kombination aus einem fairen Lohn und der Unterstützung der Solidargemeinschaft an. Dabei muss man allerdings Missbrauch ausschließen: Es ist nicht akzeptabel, wenn in Branchen Geschäftsmodelle darauf aufbauen können, die Beschäftigten so schlecht zu bezahlen, dass der Sozialstaat diesen noch Geld dazugeben muss. Das ist unternehmerischer Egoismus gleichermaßen zulasten der Arbeitnehmer und aller Steuerzahler, der im scharfen Gegensatz zu einer Verantwortungswirtschaft steht.
GENSCHER
Das kann zu einem Erschleichen von Subventionen verleiten! Im übrigen müssen die Tarifpartner auch in diesem Bereich eine wichtige Rolle spielen.
LINDNER
Ja. Ihren Hinweis auf die Tarifautonomie will ich ausdrücklich unterstreichen: Ein von der Politik ohne Tarifpartner einheitlich für alle Branchen festgelegter Mindestlohn verführt zu einem Überbietungswettbewerb in Wahlkämpfen, der am Ende zulasten der Geringqualifizierten und Einsteiger ginge. Er hätte eine enorme Sogwirkung auf die Tarifpolitik insgesamt – alle Abschlüsse würden sich in der Praxis an der Entwicklung des Mindestlohns orientieren, obwohl die Lohnuntergrenze mutmaßlich weniger von der Produktivität als von der Preisentwicklung beeinflusst wäre. Ich stelle mir im übrigen die Frage, warum das bestehende »Mindestarbeitsbedingungengesetz« nicht genutzt wird. Da ist ein Hauptausschuss vorgesehen, der in Branchen ohne hinreichende Tarifbindung prüfen kann, ob soziale Verwerfungen vorliegen. Falls ja, können Mindestarbeitsentgelte festgelegt
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