Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
ausnutzen können, muss der Rechtsstaat einschreiten. Dabei geht es weniger um Massenphänomene, sondern auch um das Gefühl, dass es in der Gesellschaft für alle ihre Mitglieder gerecht zugeht.
Drittens darf die politische Debatte in Deutschland nicht länger nur um Vermögende und die Empfänger von Transferleistungen kreisen – dazwischen ist die breite Mittelschicht, die mit ihrer fiskalischen Feuerkraft unseren Staat finanziert und mit ihrem Fleiß Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit begründet. Diese Millionen Menschen haben ein Recht darauf, dass die Politik die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit beachtet. Beispielsweise über die kalte Progression haben wir ja bereits gesprochen.
Und viertens brauchen wir Investitionen in Qualifikation, denn nichts entscheidet mehr über die Aufstiegschancen eines jeden Einzelnen.
GENSCHER
Und damit sind wir bei der Bildungspolitik angekommen.
»Hundert Prozent für Bildung!«
GENSCHER
Meine Antwort auf die Diskussion um die Rente und die Sicherung eines ausreichenden Lebensunterhalts im Alter ist Bildung. Oder anders formuliert, die erste Antwort auf die Frage der Höhe der Rente gibt das Bildungssystem. Je besser das Bildungssystem, desto sicherer ist die Rente. Nur wird dieser Zusammenhang oft nicht gesehen. Dabei ist gerade ein Land wie Deutschland existenziell von dem Erhalt und Ausbau einer Wissensgesellschaft mit hohem Bildungsstandard abhängig. Nur so können wir Spitze sein und Spitze bleiben.
LINDNER
Das Bildungssystem spielt eine größere Rolle in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit als das Steuersystem.
GENSCHER
Anders gesagt: Unsere Kinder stehen in einem Wettbewerb mit den Gleichaltrigen überall in der Welt. Für mich ist entscheidend, dass jedes Kind seine Fähigkeiten mit den gleichen Chancen entwickeln kann. Das darf nicht von der Finanzlage oder dem Bildungsgrad des Elternhauses abhängig sein. Der Wettbewerb beginnt darum bei der Fähigkeit und dem Willen, die angeborenen Chancen zu nutzen. Nur eine solche Gesellschaft wird als gerecht empfunden werden, die dafür die Voraussetzungen schafft. Und nur sie wird auf Dauer mit ihren Leistungseliten soziale Stabilität und Gerechtigkeit garantieren können. Ein Gesellschaftsmodell, das auf die Privilegien von Standeseliten, Einkommenseliten, Einflusseliten oder Parteibucheliten setzt, wird am Ende scheitern. Jede Gesellschaft braucht für den Fortschritt Leistungseliten. Aber das muss auch bedeuten, dass die Voraussetzungen für gleiche Lebenschancen geschaffen sind. Wenn nicht, dann treten an die Stelle der Leistungseliten die Standeseliten. Das zu verhindern, ist für Liberale zentral.
LINDNER
In der Tat, Bildung ist wirtschaftlich betrachtet ein entscheidender Faktor für unsere Wettbewerbsfähigkeit, vor allem ist sie jedoch gesellschaftlich betrachtet der Garant für individuelle Emanzipation. »Bildung als Bürgerrecht«, hat Ralf Dahrendorf gefordert. Wie soll man teilhaben an unserer Kultur, wenn man keinen eigenen Anknüpfungspunkt hat? Wie soll man sich in einer komplexen Gesellschaft orientieren, wenn man die Zusammenhänge nicht versteht? Auch sozialer Aufstieg hängt mehr denn je von individueller Qualifikation ab. Wir haben große Freiheiten, aber voll nutzen kann sie nur, wer über Bildung verfügt. Insofern handelt es sich wirklich um die zentrale politische Aufgabe, um eine gerechte Gesellschaft zu verwirklichen und die Menschen zu befähigen, in der Freiheit zu bestehen.
GENSCHER
Sie haben sich bald ein Jahrzehnt mit diesen Fragen im Parlament auseinandergesetzt. Wenn ich das richtig sehe, haben Sie in Ihrer politischen Tätigkeit ja sogar die Bildungslaufbahn regelrecht abgeschritten: begonnen als Fraktionssprecher für den Bereich Kindergärten, zuletzt Experte für Hochschulen. Deshalb will ich jetzt erst einmal zuhören. Also, was tun?
Drei Projekte für die Bildung
LINDNER
Ich will drei grundlegende Herausforderungen hervorheben. Erstens brauchen wir mehr Aufmerksamkeit für die frühe Förderung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen. Diese beiden Bereiche sollten auch stärker zusammen betrachtet werden, der Übergang kann und muss besser, fließender werden. Wir wenden viele Mittel für die gymnasiale Oberstufe auf, aber die Grundlagen einer Biographie werden bereits lange vorher gelegt. Da muss das Bildungssystem gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Also kleinere Gruppen, mehr Einzelförderung – gerade in der deutschen
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