Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Das Leben kennt in Wahrheit keine Pausen. Die Politik als Teil dieses Lebens also auch nicht. Deshalb war mein Wahlkreis Wuppertal von Ihrem damaligen Vorgänger als Landesvorsitzendem, Willi Weyer, mit Rücksicht darauf für mich ausgewählt worden, dass ich in Bonn wohnen bleiben konnte – er erachtete es für wichtig, dass ich in der Hauptstadt lebe. Es muss am Parlamentsort einer da sein. Und dafür hielt er mich für geeignet.
LINDNER
Sie meinen, einer muss immer für die Kameras greifbar sein? Das ist heute unverändert so.
GENSCHER
In allen Zeiten ist es unsere Aufgabe, Politik zu vermitteln; und auch zielgerichtet zu kommunizieren. Damals – nur mal nebenbei bemerkt – musste jeder Abgeordnete eine Presseerklärung zuerst mir vorlegen, bevor er damit an die Öffentlichkeit ging.
LINDNER
Denken Sie, das ist in meiner Fraktion in Nordrhein-Westfalen heute anders?
GENSCHER
Ich weiß, dass Sie es auch so handhaben, das habe ich erlebt, als ich in Ihrer Fraktion zu Gast war. Aber das sollten wir nicht öffentlich sagen.
LINDNER
Ich finde, das kann man ohne schlechtes Gewissen öffentlich sagen. Ich halte das nämlich für professionell. Wenn eine Kollegin oder ein Kollege eine Stellungnahme für die Fraktion insgesamt abgibt, muss ich als Vorsitzender doch darauf achten, dass die gemeinsam gefassten Beschlüsse beachtet werden. Das ist keine Zensur, denn als einzelner Abgeordneter kann ja jeder seine individuelle Meinung öffentlich vertreten. Wenn aber einer die Fraktion insgesamt auf eine Linie festlegen will, dann ist das Vier-Augen-Prinzip sinnvoll.
GENSCHER
Das haben Sie gut erklärt.
LINDNER
Ich will aber noch einmal auf die Frage der Beschleunigung der Politik zurückkommen, weil es mir nicht nur um Information geht, sondern auch um den politisch-parlamentarischen Entscheidungsprozess. Für die größte Zahl der Gesetzgebungsvorhaben gibt es nach wie vor ausreichend Beratungszeit. Mitunter dauern die Verfahren sogar sehr lang. Es mehren sich aber die Situationen, in denen eine sorgfältige und vertiefte Beratung kaum bis gar nicht möglich ist. Paradoxerweise betrifft das die wesentlichen, mindestens aber besonders finanzwirksamen Fragen. Der öffentliche Entscheidungsdruck, die sogenannten »Sachzwänge« oder »die Märkte« verlangen nach schnellen Ergebnissen – wer nicht in Echtzeit entscheidet, scheint nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein.
Nicht nur ich sehe, dass die Politik mit der Finanzkrise des Jahres 2008 in einen nunmehr permanenten Krisenmodus gewechselt ist. Dem Deutschen Bundestag werden komplexe Vorlagen mit Hunderten Seiten Umfang zugeleitet, die selbst Experten kaum durchdringen können. Die Information ist maximal – aber nicht optimal. Die Papiere mussten in kürzester Zeit durch das Parlament geschleust werden. Da gibt es dann einen kleinen Kreis von Sachkundigen, die für den Deutschen Bundestag insgesamt Entscheidungen ungeahnter Tragweite zu treffen haben. In meiner Zeit in Berlin habe ich mehr als einmal gedacht, dass wir an der Grenze zur Überforderung des Parlaments balancieren.
GENSCHER
Ihr Befund ist sicher richtig, aber er ist nur zum Teil eine Zeiterscheinung. Wie Sie schon sagen, hängt viel an der Bewältigung aktueller Krisen. Entscheidungen zu unserer Währung werden heute politisch diskutiert, obwohl sie unter normalen Umständen von der Zentralbank zu treffen wären. Die Parlamente entscheiden über neue Sachverhalte, weil im geeinten Europa bestimmte Fragen der Außenpolitik vielfach zur Innenpolitik geworden sind. Hoffen wir, dass wir bald zu einer Form der Normalität zurückkehren können.
LINDNER
In Fragen der Europäischen Rettungsschirme sind die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages allerdings ausgedehnt worden. Das ist prinzipiell natürlich zu begrüßen – es ist sogar ein Paradigmenwechsel im Interesse eines selbstbewussten Parlaments. Nur erhöht diese Entscheidung dauerhaft die Anforderungen an jeden einzelnen Abgeordneten.
GENSCHER
Nicht nur deshalb haben die Mitglieder des Deutschen Bundestages eine große Verantwortung. Sie müssen global und europäisch beeinflusste Entscheidungen treffen. Das Parlament wird sehr darauf achten müssen, dass die wissenschaftliche Ausstattung ihm ermöglicht, dieser gewachsenen Verantwortung auch gerecht zu werden. Das ist kein Geschenk an Abgeordnete, sondern Voraussetzung für die Qualität der Entscheidungen des Deutschen Bundestages insgesamt.
LINDNER
Die Beratung der
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