Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Online-Medien. Da reicht eine Nachricht allein nicht mehr. Sie wird immer stärker direkt mit Meinung oder einer bestimmten Interpretation verbunden – sie erhält einen Spin, wie man sagt. Das führt nach meinem Geschmack oft zur Überpointierung. Ich habe mehrfach selbst erlebt, dass die Nachrichtenfassung eines Wortlaut-Interviews mit den darin geäußerten Positionen nur noch im losen Zusammenhang stand.
GENSCHER
Da war das Tempo zu meiner Zeit natürlich anders. Es gab feste Größen: Die Tageszeitung hatte zumindest einen Tag mit ihrer Titelgeschichte Bestand, das Frühinterview im Radio hat dann Bewegung erlaubt, die
Tagesschau
am Abend hat den Tag zusammengefasst.
Das Problem von uns Politikern ist doch, dass wir nicht jedem Bürger unsere Entscheidungen persönlich erklären können. Unsere Aufgabe aber ist es, die Öffentlichkeit zu überzeugen und im besten Falle für uns zu gewinnen, nur so kann Vertrauen zwischen Bürgern und Politik gebildet werden. Und auch gegenüber unseren Partnern in der Welt. Es macht einen Unterschied, ob eine Regierung ihre Außenpolitik als geheime Kabinettspolitik oder als im wahrsten Sinne des Wortes
res publica
betrachtet. Wenn Außenpolitik öffentlich stattfindet, dann können sich auch die Partner im Ausland darauf verlassen, dass es überraschende Änderungen in diesem Land nicht geben wird – selbst bei Regierungswechseln nicht. Deshalb ist Kommunikation zentral für eine gute Politik. Die klassische Methode ist das Interview. Aber so schön es ist, ein einstündiges Gespräch zu führen, manchmal reichen durchaus auch zehn Minuten, um einen bestimmten Vorgang zu erläutern.
LINDNER
Diese zehn Minuten bekommt man selten. Da haben Sie, was die Medien angeht, natürlich in anderen Zeiten gearbeitet. Wenn man alte Ausgaben der
Tagesschau
heute ansieht: zweiminütige Interviews zur Prime Time! Heute muss man so formulieren, dass …
GENSCHER
… die Botschaft mit einem kurzen Satz überkommt!
LINDNER
Exakt. Und am besten so, dass der Nebensatz nicht herausgeschnitten werden kann, damit man wenigstens fünf Sekunden hat. Andererseits hat auch die Vielfalt der Medien zugenommen. Das finde ich ausgesprochen positiv, weil das die Individualisierung der Gesellschaft widerspiegelt und neue Differenzierung erlaubt.
Heute gibt es den fortwährenden Flow, der immer neue Geschichten, Aspekte, Nachrichtenschnipsel hervorbringt. Auf
Twitter
darf ein Argument nicht mehr als 140 Zeichen haben. Bei Positionen gilt das Facebook-Prinzip: »Gefällt mir« oder »Gefällt mir nicht« – ohne Zwischentöne. Anders als früher »versendet« sich auch nichts mehr so schnell. Ein Fehler oder eine Ungeschicklichkeit bleibt. Denken Sie an die Kultreden von Edmund Stoiber, die man noch immer vor Augen beziehungsweise bei
YouTube
auf dem Schirm hat. Oder denken Sie an Norbert Röttgen, dem nachts um 23 : 00 Uhr, möglicherweise erschöpft vom Tag und unkonzentriert, in einem Spartenkanal der Satz herausrutschte: »Bedauerlicherweise entscheiden ja die Wähler, was aus mir wird.« Vielleicht hatte er das sogar ironisch gemeint. Der Satz wurde dann auf
YouTube
und anderen Kanälen verbreitet, entwickelte sich dadurch zu einem politischen Thema oberhalb der Wahrnehmungsschwelle – der Satz konnte einfach nicht mehr entsorgt werden.
GENSCHER
Ich hatte mein Cannae in meinem ersten Jahr als Bundestagsabgeordneter, die Große Koalition war gerade gegründet worden. Ich stand also im Parlament am Rednerpult und wollte sagen: »Für so etwas reichen wir nicht unsere Hand«, beginne aber, rhetorisch vollkommen wahnsinnig, mit der Bemerkung: »Wir sind ein schlechter Partner …« Ich wollte dann fortsetzen »… für dies und das …« – aber so weit kam ich gar nicht mehr, weil es nach meinem ersten Halbsatz tosenden Beifall bei CDU und SPD gab. Das hat sich bei mir eingebrannt, das würde mir nie wieder passieren! Da könnte ich hundert Jahre alt werden, das werde ich nie vergessen!
LINDNER
Das Weltgedächtnis würde es auch nicht vergessen, wenn es von dieser Rede einen
YouTube
-Clip geben würde. Das sage ich alles beschreibend, denn damit sind Chancen und Risiken gleichermaßen verbunden. Bedenklich finde ich nur, dass Möglichkeiten der ruhigen Reflexion verloren gehen, wenn in Echtzeit bewertet, entschieden und kommuniziert werden muss. Ich erinnere mich an Gespräche im Koalitionsausschuss im Bundeskanzleramt. Angela Merkel hatte den Beratungspunkt noch nicht
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