Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Daran krankt beispielsweise die Reform des Gymnasiums. Warum ist die Gymnasialzeit für alle gleichermaßen verkürzt worden? Der eine braucht 14 Jahre bis zum Abitur, ein anderer schafft es in zwölf und einige vielleicht sogar in elf Jahren, weil die Talente unterschiedlich sind.
Bei der individuellen Förderung ist mir eines aber wichtig: Es ist ja richtig, dass wir uns um die Kinder und Jugendlichen bemühen, die eine spezielle Förderung brauchen. Das macht ja soziale Gerechtigkeit aus, allen bestmögliche Startchancen ins Leben zu eröffnen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Hochtalentierte und Hochinteressierte, die ebenfalls unsere Aufmerksamkeit verdient haben. Breitensport zu fördern und auch Spitzensport, ist doch kein Widerspruch, wir brauchen beides. Ich gehe so weit zu sagen, dass die hochinteressierte, hochtalentierte Schülerin, die beispielsweise eine natürliche Begabung im Bereich der Mathematik hat, das gleiche Recht hat auf eine intensive individuelle Förderung, etwa durch die Teilnahme an Hochschulveranstaltungen, wie der Schüler, der vielleicht nicht der deutschen Sprache mächtig ist, vielleicht sogar nicht mal die eigene Muttersprache beherrscht, weil sie zu Hause nur bruchstückhaft gesprochen wird. Das wird zu oft gegeneinander ausgespielt, als wäre die Förderung einer akademischen Spitze gerichtet gegen eine Förderung in der Breite. Beides gehört zusammen, das ist eben Individualität.
GENSCHER
Einverstanden. Ich habe bereits Mitte der achtziger Jahre für ein solches Konzept geworben. Damals habe ich allerdings auch erfahren müssen, dass es in Deutschland eine gewisse Voreingenommenheit gegen das Wort »Elite« gibt. Deshalb muss man deutlich machen, dass es eben nicht um Erbhöfe und Zufälligkeiten der Geburt geht, sondern um eine Elite, die sich durch Fleiß und Leistung nach oben arbeitet.
Aber ich will mich noch einmal vergewissern, ob Sie die finanzielle Priorität für diese Zukunftsaufgabe so einschätzen wie ich.
LINDNER
John F. Kennedy hat einmal gesagt: »Es gibt nur eine Sache auf der Welt, die teurer ist als Bildung: keine Bildung.« Keine Frage also, Bildungsausgaben sind Investitionen in individuelle Lebenschancen und damit zugleich in sozialen Zusammenhalt und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Konkret werden wir ja einen demographischen Wandel in den kommenden Jahren erleben. Da ist die zurückgehende Zahl der Schülerinnen und Schüler eine Chance, einen Teil der Mittel im System zu halten und damit die Qualität zu verbessern, das Geld also zielgerichtet einzusetzen.
GENSCHER
Nein, die Mittel müssen erhöht werden.
LINDNER
Für die Förderung des einzelnen Schülers stehen dann ja mehr Mittel bereit, wenn mindestens ein Teil der frei werdenden Gelder weiter für das Bildungssystem reserviert wird. Das ist auch sinnvoll.
GENSCHER
Warum sind Sie so bescheiden und sagen, nur einen Teil?
LINDNER
Weil ich die Situation etwa des Landeshaushalts Nordrhein-Westfalen so präzise kenne, dass ich mich nicht auf hundert Prozent festlegen will.
GENSCHER
Dann tue ich es: Hundert Prozent für Bildung!
LINDNER (lacht)
Sie machen mir damit aber meine Arbeit als Fraktionsvorsitzender nicht einfacher.
GENSCHER
Das ist ja auch nicht meine Aufgabe. Im Ernst, es ist eine gesamtstaatliche Herausforderung, diese Zukunftsaufgabe finanziell angemessen anzugehen. Deshalb ist auch die Mitverantwortung des Bundes so wichtig. Das an die Adresse der Vertreter des Kooperationsverbots: Das sind alte Zöpfe, das ist altes Denken.
Politik, Medien, Bürger
LINDNER
In der vergangenen halben Stunde, während wir hier zusammensitzen, sind auf meinem Telefon mehr als zehn E-Mails eingegangen, mein Handy zeigt zwei entgangene Anrufe und drei neue SMS . Immer erreichbar, allzeit bereit – die Technik und die neuen Medien zwingen uns Politiker, sofort zu reagieren und sofort Stellung zu beziehen. Ich beneide Sie ein wenig, dass Sie ohne Handy und Internet Politik machen konnten, entschleunigter und womöglich deswegen auch substanzieller.
GENSCHER
Offen gesagt, ich empfinde das anders. Mir war immer die Information, noch dazu die aktuelle, eine wichtige Voraussetzung besserer Entscheidungsfindung. Hier sind wir heute ohne Zweifel weiter als früher. Man kann über andere Nachteile philosophieren, aber eine solide Information als Entscheidungsgrundlage ist für mich ein großer Gewinn. Wichtig ist auch die ständige Bereitschaft zu Information und Entscheidung.
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