Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
menschlich ist.
LINDNER
Mein Gefühl bleibt dennoch, dass es für bestimmte Aufgaben eine besondere Seniorität, eine spürbare Lebenserfahrung braucht. Als 2011 zum Beispiel der FDP -Vorsitz neu besetzt wurde und auch ich als Parteichef gehandelt wurde, war mir bewusst, dass ich diese Aufgabe allein schon wegen meines Lebensalters nicht übernehmen kann. Stellen Sie sich einmal vor: Treffen der Koalitionsspitze, die Kanzlerin steigt aus ihrer Limousine, der grauhaarige Seehofer fährt vor, und dann kommt der dritte Wagen mit dem FDP -Chef, bremst – und ein Klassensprecher steigt aus.
GENSCHER
Dass Sie das so empfinden zeigt, dass Sie in Einsicht und Verantwortung Ihr Lebensalter hinter sich gelassen haben. Andererseits kann ich Ihnen sagen: Lebensjahre allein machen auch noch keinen guten Politiker.
LINDNER
Lassen Sie mich präzisieren: Es geht nicht nur um Lebenserfahrung, sondern um die historischen Prägekräfte, die bestimmten Einzelpersönlichkeiten heute eine besondere Autorität geben.
GENSCHER
Natürlich ist das richtig. Im Grunde spürten viele unmittelbar nach dem Krieg die Notwendigkeit des ganz anderen – des Neuanfangs. Deshalb engagierten sie sich politisch, auch wenn die Lebensumstände – Hunger, Wohnungsnot, Heimatverlust – und die Ungewissheit über das Schicksal lieber Menschen sie bedrückte. Auch in diesem Zusammenhang dürfen wir die Suche nach Orientierung nicht vergessen, auch nach persönlichen Beispielen. Wie viele Menschen standen damals allein da? Sie hatten alles verloren, was ihnen vertraut war, was ihnen Halt gegeben hatte – Familie, Freunde, Heimat. Da konnte eine eindrucksvolle Persönlichkeit ganz fern plötzlich ganz nah sein – und prägend dazu.
Veränderte Bewegungsgesetze des politischen Betriebs
LINDNER
Dass wir auf diese Generation anders schauen als auf Politiker in aktueller Verantwortung, hängt möglicherweise auch mit veränderten Themen und Bewegungsgesetzen des politischen Betriebs zusammen, meinen Sie nicht? Die Debatten haben sich beschleunigt. Die Themen sind technisch kleinteiliger und komplexer – es geht zumeist nicht mehr um Richtungsfragen. Deshalb wechselt auch die Berichterstattung schneller von der Sachfrage auf eine parteitaktische Ebene. Häufig hat ein Thema eine Haltbarkeit von weniger als 24 Stunden, also zu oft Bodenturnen statt Hochreck.
Nehmen wir beispielsweise die letzte Debatte in der SPD über die Rente mit 67 . In der Substanz eine wichtige Frage des Generationenvertrags, der Finanzierbarkeit des Sozialstaats und auch der Vermeidung von Altersarmut. Dennoch standen in der Betrachtung der Debatte sachfremde Aspekte vorn: Wollen sie damit die Linkspartei attackieren, müssen sie den linken Flügel der SPD reintegrieren, setzen sie sich von der Agenda 2010 ab – und was macht das mit Peer Steinbrück?
GENSCHER
Darin stimme ich Ihnen zu, die grundsätzlichen Fragen stehen oft nicht mehr im Vordergrund. Vielmehr wird darüber debattiert, wie sich bestimmte Politiken öffentlich auswirken und was sie für die Vernetzung mit anderen Parteien bedeuten. Es geht ums Image, nicht um die Sache. Trotzdem hat die Politik eine Bringschuld diskursiver und inhaltlicher Art, auch wenn das jetzt altmodisch klingen mag.
LINDNER
Das empfinde ich gar nicht als altmodisch. Ganz im Gegenteil, ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Publikum es schätzt, wenn man politische Konzepte aus einer Wert-, einer grundsätzlicheren oder historischen Perspektive darlegt. Gleichzeitig aber funktioniert die Meinungsmachermaschinerie nach völlig anderen Kriterien: Die professionellen Beobachter in Parteien und Medien prüfen nicht zuerst die Bemerkung in der Sache, sondern sie leuchten umgehend taktisch aus. Die Debattenkultur hat sich vor allem durch die verschärfte Konkurrenz zwischen den klassischen und den neuen Medien verändert …
GENSCHER
… das interessiert mich besonders, weil es das zu meiner Zeit naturgemäß nicht gab. Wie würden Sie das beschreiben?
LINDNER
Sie sind gar nicht im Internet unterwegs? Ihre Weggefährten Klaus Kinkel oder Gerhart Baum beispielsweise ja schon …
GENSCHER
Indirekt schon. Und Kinkel und Baum, das sind ja auch junge Männer …
LINDNER
Sie lesen immerhin SMS , so viel weiß ich. Durch die neuen Medien gibt es eine enorme Beschleunigung der Debatten.
Spiegel Online
wechselt mehrfach am Tag gewissermaßen die Titelseite. Zugleich gibt es auch einen schärferen Wettbewerb zwischen den
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