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Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Titel: Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Lindner , Hans-Dietrich Genscher
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auf links umgekrempelt wird. Eigentlich müsste man die Schulen einfach mal in Ruhe lassen und vor Reformeiferern in Schutz nehmen.
    GENSCHER
    Wenn entpolitisieren entideologisieren heißen soll, stimme ich Ihnen zu. Wir haben zum Beispiel einen Sachverständigenrat für die Wirtschaft, wir haben einen Sachverständigenrat für Umweltfragen – ich vermag beim besten Willen nicht einzusehen, warum es nicht einen Bundesbildungsrat geben soll. Mit angesehenen Experten, an denen die Politik dann nicht mehr vorbeigehen kann.
    LINDNER
    Es entwickelt sich da zudem etwas von unten, aus der Praxis heraus. Ich nenne einmal das umstrittenste Feld der Bildungspolitik, die Schulstruktur. Erbitterte Kontroversen wurden und werden um Einheitsschule einerseits und gegliedertes Schulsystem andererseits geführt. Tatsächlich wächst jenseits aller ideologischen Schlachten von unten nun eine Art Zwei-Säulen-Modell: mit einem stärker allgemeinbildend akademisch ausgerichteten Gymnasium und daneben einer zweiten Säule, die aus den früheren Haupt-, Real- oder Gesamtschulen besteht. Stärker beruflich orientiert, aber gleichwertig und auf Augenhöhe. Das scheint mir ein pragmatischer Weg zu sein.
    GENSCHER
    Ich teile mit Ihnen auch die Auffassung, dass sich ein Parallelmodell zu etablieren beginnt. In Sachsen wurde diese Aufteilung zwischen akademisch- und praxisorientierten Schulen gleich nach der Deutschen Einheit mit Erfolg eingeführt. Das kann attraktiv sein, weil so die Neigungen eines Kindes besser berücksichtigt und gefördert werden können. Allerdings muss am Ende den Eltern die Entscheidung überlassen bleiben, welche Schulform die richtige für ihr Kind ist. Der Begriff Elternrecht darf nicht zur Leerformel werden.
    LINDNER
    Die Eltern haben in einem wesentlichen Punkt bereits geurteilt. Die politisch oktroyierten Einheitsschulen finden keine Akzeptanz. Das hat der Volksentscheid über die damaligen schwarz-grünen Pläne in Hamburg gezeigt. Ich will diese Schulmodelle gar nicht ideologisch geißeln. Ich mache nur auf folgenden Zusammenhang aufmerksam: Wenn eine solche Einheitsstruktur mit Gewalt durchgesetzt wird oder durch die kalte Küche, indem das Gymnasium vernachlässigt und integrierte Schulen – beispielsweise bei Ganztagsangeboten – bevorzugt werden, dann suchen sich die Eltern Alternativen. Das sieht man im angelsächsischen Raum. Da steht der öffentlichen Einheitsschule eine Vielzahl von mitunter teuren Privatschulen gegenüber. Nichts gegen Vielfalt – das aber wäre eine Spaltung des Bildungssystems, die man für Deutschland nicht wollen kann. Deshalb setze ich mich so energisch für unsere öffentlichen, kostenfreien Gymnasien ein. Deren Modernisierungsprobleme dürfen auch nicht unterschätzt werden. Die pädagogischen Methoden müssen dort dringlich weiterentwickelt werden, wenn heute mancherorts deutlich mehr als 50  Prozent eines Jahrgangs das Gymnasium besuchen.

Möglichst kleine Klassen? Möglichst gute Lehrer? Über Prioritäten
    GENSCHER
    Ihr Hinweis auf die Flucht in die Privatschulen im Inland und im Ausland ist für mich als Liberalen, der das Recht auf Bildung als Bürgerrecht sieht, ein Alarmruf. Die Zukunft liegt nicht in einem Schulsystem, das auf solche Weise die Einkommensverhältnisse der Eltern reflektiert.
    Es gibt nach meiner Einschätzung vor allem einen zentralen Mangel in unserem Bildungssystem, den alle Schulformen teilen und den wir überwinden müssen: Je kleiner die Klassen sind, desto besser gelingt die Förderung der Fähigkeiten, die in jedem Menschen stecken. Das ist eine simple Erkenntnis, und die müssen wir schnell in die Praxis umsetzen. In Zeiten wie diesen können wir nicht erwarten, dass die Talente und Fähigkeiten junger Menschen in einer Klasse von vielleicht bis zu 30  Schülern geweckt, erkannt und gefördert werden. Ein Lehrer hat bei einer solchen Schülerzahl keine Chance, sich ausreichend mit Einzelnen zu befassen. Auf Dauer Klassenstärken dieses Umfangs zuzulassen bedeutet, die Zukunftschancen junger Menschen zu vernachlässigen.
    LINDNER
    Das Stichwort heißt Individualität. Sicher spielt die Klassengröße eine Rolle, aber viel mehr noch die Qualifikation und die Persönlichkeit der Lehrerinnen und Lehrer. Das zeigen inzwischen auch wissenschaftliche Studien. Mehr persönliche Zuwendung für die einzelnen Schülerinnen und Schüler, aber auch mehr Flexibilität und Durchlässigkeit in der Bildungsbiographie insgesamt – das brauchen wir.

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