Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
gar nicht sicher, wie lange sie reden würden. Aber niemand hätte Herrn Heinemann oder Herrn Dehler gesagt, sie müssten jetzt aufhören, ihre Redezeit wäre vorbei.
LINDNER
Im normalen Parlamentsbetrieb ist das heute kaum vorstellbar.
GENSCHER
Dazu kommt: So schön der Plenarsaal im Reichstag ist, weil das Licht von oben hereinkommen kann, so desintegrierend ist er auch.
LINDNER
Was stört Sie?
GENSCHER
Er führt nicht zusammen. Am schönsten war für mich als Redner das Wasserwerk, das Ersatzparlament in Bonn, ein Ausweichquartier auf Zeit.
LINDNER
Weil es so eng war, fast wie im britischen Unterhaus?
GENSCHER
Man saß sich zwar nicht gegenüber, aber sonst ähnelte es fast dem Londoner Parlament. Das sorgte für eine ganz andere Atmosphäre.
LINDNER
Das kann ich nachvollziehen. Ich kenne ja als Parlamentsredner den Bundestag und den Landtag von Nordrhein-Westfalen. Die Auseinandersetzung in Düsseldorf ist intensiver, weil Sie unmittelbar in Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen sind. In Berlin kann man auf Zwischenrufe schlechter reagieren – allein deshalb, weil Sie sie vielfach akustisch gar nicht wahrnehmen können.
GENSCHER
Der deutsche Parlamentarismus ist generell deutsch organisiert. Regelrecht durchorganisiert. Auch wenn das früher zeitraubender war und auch nervende Leute geredet haben – freier ist besser, das schafft ein anderes Diskussionsklima, und gerade das braucht die Politik.
Parlament, das heißt für mich nicht zuletzt: große rednerische Begabungen, die aufrütteln, die bewegen – ja, die zwingen nachzudenken. Können Sie sich vorstellen – Carlo Schmid, Helmut Schmidt, Fritz Erler, Herbert Wehner und auch Willy Brandt, obwohl der mir natürlich nur als Bundeskanzler im Parlament in Erinnerung ist. Oder bei uns Thomas Dehler oder Walter Scheel bei seiner großartigen Rede gegen das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt. Wenn Dehler am Rednerpult stand, kamen die Leute in den Plenarsaal und auf die Tribüne, und es war egal, zu welchem Thema Dehler sprach. Sie wollten ihn einfach nur reden hören, weil sie wussten, sie würden auf ihre Kosten kommen. Glänzend auch die CDU -Männer Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß, Kurt Georg Kiesinger. Die Debatten zu den Ost- und Westverträgen waren wirklich Sternstunden des Parlaments. Und wenn ich von der großen Rede spreche – wir haben das schon erwähnt –, dann komme ich immer wieder zurück auf die historische Rede von Richard von Weizsäcker am 8 . Mai 1985 .
LINDNER
Legendär, ja. Ich würde übrigens nicht sagen, dass die Redner heute durch die Bank schlechter sind. Es werden nach meinem Geschmack nur zu oft vorgefertigte Bulletins verlesen. Da fehlt dann das Tempo, die Auseinandersetzung mit dem Argument der Vorredner. Insofern sind auch die Sternstunden seltener – da sind wir wieder bei den Richtungsauseinandersetzungen. Als Sternstunden empfinde ich heute die Debatten, die ohne Fraktionsdisziplin geführt werden. Zum Beispiel über die Stammzellenforschung – Fragen also, die nicht ritualisiert verhandelt werden, weil der einzelne Abgeordnete nicht die Kampflinie seiner Fraktion vertreten muss, sondern aus eigener innerer Motivation spricht. Davon abgesehen ist der politische Diskurs stark ausgewandert in die Talksendungen. Das muss man nicht in jeder Beziehung nachteilig finden. Die Politik ist dadurch ein Stück nahbarer geworden, weil die Leute jeden Abend einen Volksvertreter im Wohnzimmer bei der Argumentation, auch bei Wutausbrüchen – eben als Menschen – aus der Nähe beobachten können. Mit der Distanz geht natürlich auch Nimbus verloren. Früher gab es das dosierter; die großen Runden vor den Wahlen, zwei-, dreistündige Sendungen …
GENSCHER
Vier Stunden! Von 20 . 15 Uhr bis Mitternacht. Donnerstags.
LINDNER
… in verrauchten schwarzen Studios. Mit einem amtlichen Charakter. Erschöpfend moderiert mit zum Teil länglichen Ausführungen über Minuten – heute ein spannendes Zeitdokument, aber Geschichte.
Ende der traditionellen Parteibindung – Stunde der Liberalen?
GENSCHER
Ich will noch einen weiteren Aspekt einbringen. Politik wird stärker an Persönlichkeiten festgemacht, da hat eine Entideologisierung stattgefunden. Das sieht man zum Beispiel, wenn Herr Steinbrück davon spricht, er brauche ein bisschen Beinfreiheit. Das beschreibt exakt die Lage.
Die traditionelle Parteienbindung – wer katholisch ist, wählt CDU , wer malocht, SPD – ist vorbei. Ich habe
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