Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Bürgerbeteiligung ins politische System drängen, so immens ist, dass wir uns ihr nicht verschließen können. Mir scheint, die Politik ist prinzipiell offen für mehr Bürgerbeteiligung, sie weiß nur noch nicht, wie sie das neue Potenzial an technischen Möglichkeiten in ihre Praxis integrieren kann. Ich bin aber ein Anhänger der klassischen Beteiligungsform durch eine Volksbefragung, wie sie zum Beispiel bei »Stuttgart 21 « angewendet worden ist.
LINDNER
Das ist für mich das Schulbeispiel für einen Fall, in dem sinnvollerweise ein Referendum vorgesehen wurde. Der Vorgang hat vor allem gezeigt, dass wir Politiker uns nicht von einzelnen Interessensgruppen irreführen lassen dürfen, denen es durch lautstarkes Auftreten, durch mediale Präsenz und durch Kampagnen in den sozialen Netzwerken gelingt, den Eindruck zu erwecken, die Mehrheit stünde hinter ihnen. Das Plebiszit hat am Ende deutlich gemacht, dass die Bahnhofsgegner in der Unterzahl waren – obwohl in der Öffentlichkeit das Bild vorherrschte, ganz Baden-Württemberg wehre sich mit Händen und Füßen gegen dieses Projekt. Insofern hat eine Volksbefragung einen befriedenden Charakter, sie offenbart, dass es einen Unterschied zwischen veröffentlichter Meinung und öffentlicher Meinung gibt. Die liberale Bürgerdemokratie ist eben kein populistisches Tribunal der Straße, sondern im republikanischen Sinn die rechtsstaatlich gesicherte Selbstregierung der Bürger durch Bürger und für Bürger.
GENSCHER
»Stuttgart 21 « hat uns vor Augen geführt, was passieren kann, wenn der Schenkeldruck der sozialen Medien und der Bürger auf die Politik zu stark wird. Die spontane Empörung gut organisierter Minderheiten ist zu einer Welle geworden, die die politischen Entscheider niederzuwalzen drohte.
LINDNER
Deshalb glaube ich, dass die klassischen Instrumente der direkten Demokratie erhalten bleiben müssen, weil die vielen Beteiligungs- und Willensbekundungsmöglichkeiten, die das Internet heute bietet, auch in die Irre führen können. Darüber hinaus bewerte ich die Volksgesetzgebung – also die direkte Abstimmung über ein Gesetz – ebenfalls als kritisch, weil notwendige Korrekturen an einem Gesetzentwurf im Beratungsverfahren dann nicht mehr möglich wären. Eine politische Willensbekundung des Volkes, die Raum für die konkrete fachliche Umsetzung im Parlament lässt, ziehe ich dem vor.
Vielleicht schadet auch dem Parlamentarismus selbst etwas institutionelle Phantasie nicht? Ich habe beispielsweise einmal vorgeschlagen, seitens des Parlaments zufällig ausgewählte Bürger zu einem konkreten Sachverhalt in eine »Bürgerkammer« einzuladen. Diese würden Expertenanhörungen durchführen und ein »Bürgergutachten« als Empfehlung an die Parlamentarier erarbeiten. Auf kommunaler Ebene hat man mit Vergleichbarem gute Erfahrungen gemacht, innerhalb der FDP habe ich zu meiner Zeit als Generalsekretär der Bundespartei ebenfalls damit experimentiert. Da habe ich Mitglieder der Parteibasis die Beratungspunkte des Bundesparteitags vorab diskutieren lassen. Für mich liegt der Vorteil auf der Hand: Notwendige, aber unpopuläre Entscheidungen könnten so neue Akzeptanz gewinnen, weil niemand einer zufällig ausgewählten »Bürgerkammer« den Vorwurf machen könnte, angeblichen Lobbyinteressen zu folgen oder sich vom wirklichen Leben abzukoppeln. Für ein solches Instrument müsste zudem kein einziges Gesetz geändert werden, weil es sich um ein informelles Verfahren handelt.
GENSCHER
Diese Idee ähnelt der Einbeziehung von Laien im Gerichtswesen. Warum nicht? Schaden kann ein solches Experiment nicht.
Mein Fazit ist: Der politische Beruf ist in vieler Hinsicht anders geworden, auch die handwerklichen Anforderungen mit Blick auf die sozialen Netzwerke und Medien. Aber eines bleibt, und zwar für alle Zeit: Die persönliche Glaubwürdigkeit und die Leidenschaft, für die eigenen Überzeugungen einzustehen und zu kämpfen, begründen Erfolg oder Misserfolg. Es gibt Situationen, da muss man sich entscheiden; da muss man sein Herz über die Hürde werfen. Nur wer dazu bereit ist – und die Menschen spüren das –, wird das Maß an Glaubwürdigkeit haben, ohne das man auf Dauer in der Politik nicht bestehen kann. Das war im antiken Athen so, das war zu meiner Zeit so, und das ist auch in Ihrer Zeit so.
»Das Banner entfalten« für eine »ökologisch-soziale Marktwirtschaft«
LINDNER
Herr Genscher, Sie waren im ersten Kabinett Brandt als
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