Brüder der Drachen
Welle der Vernichtung schien über die ohnehin schon halb zerstörte Stadt hinweggezogen zu sein. Kaum ein Stein stand noch auf dem anderen. Tief hängende Wolken bedeckten den Himmel und kündigten ein kommendes Unwetter an. Eril-Angoths rotes Licht drang durch einen Spalt in der Wolkendecke und spiegelte sich wider in den bleichen Steinen der toten Stadt. Wo war Eril-Firion, das Auge des Wächters? Voller Angst sah Danira, wie die Wolken sich immer tiefer über die Stadt senkten. Und in den Wolken, nur schemenhaft erkennbar, bewegten sich finstere Kreaturen. Schon legten sich die Wolken über ihr Haus, und faulig riechende Dunstschleier drangen durch das Fenster. Flüchtig sah Danira ledrige Schwingen, schreckliche Klauen und rot leuchtende Augen, dann löste sich etwas aus den Wolken und stürzte auf sie zu – und es war kein Drache! Menschenähnlich schien die Kreatur, doch mit tierhaften Gesichtszügen und langen Klauen an Händen und Füßen. Als Danira verzweifelt das Fenster schließen wollte, bemerkte sie plötzlich, dass die Läden verschwunden waren. Ein Blitz zuckte auf, dicht vor ihr. Und dann hörte sie eine leise Stimme, die direkt in ihr Ohr zu sprechen schien:
»Danira … Danira!«
Woher kannten diese schrecklichen Wesen ihren Namen?
»Danira, was ist denn los mit dir?« Almina rüttelte das Mädchen mit einer Hand. In der anderen hielt sie eine Kerze, die das Zimmer in schwaches Licht tauchte.
»Schnell, schließt das Fenster«, rief Danira und richtete sich auf.
»Ist ja schon gut, Kind. Du hast geträumt. Es gibt hier keine Fenster. Die Drachen können nicht herein.« Almina stellte die Kerze neben dem Bett ab und drückte Danira an sich.
»Es waren keine Drachen«, sagte Danira mit zitternder Stimme.
»Na, dann war es ja halb so schlimm«, erwiderte Almina. »Willst du jetzt aufstehen, oder versuchst du wieder zu schlafen?«
*
Loridan und Deryn blickten schweigend über die Ruinen der Stadt hinweg. Die Sterne, die sich gelegentlich zwischen den Wolken hatten sehen lassen, verblassten langsam gegen den heller werdenden Himmel. In aller Frühe war Deryn von Loridan aus seinem Schlaf gerissen worden, und der Drachentöter hatte nur ein paar knappe Worte gesprochen:
»Ich will dir etwas zeigen, und dann können wir reden.«
In der Küche hatten sie Almina getroffen, und sie hatte ihnen einen sicheren Aufstieg in die Ruinen des Hauses gewiesen, unter dem sie ihr Quartier hatten. Nun saßen sie zwischen den Trümmern des eingestürzten Daches, höher als die Ruinen der Umgebung, sodass sich ihnen ein weiter Blick in alle Richtungen bot. Beide hatten sich in ihre Umhänge gehüllt, um sich vor der Kälte der Morgendämmerung zu schützen.
»Hast du mich nur deshalb aus dem warmen Bett geholt, um mir dieses Trümmerfeld zu zeigen?«, brach Deryn das Schweigen. »Ich habe gestern schon genug davon gesehen.«
»Du wolltest wissen, warum ich hierhergekommen bin, Deryn. Nun, das hier ist der Grund. Für diesen Anblick habe ich die lange Reise unternommen.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst. Ich finde die Sonnenaufgänge in Car-Tiatha schöner. Aber am liebsten sind mir die Sonnenaufgänge, die ich im Bett erlebe.«
Zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen sah Deryn seinen Freund im Licht des Tages, und er war erstaunt, wie gesund und kräftig Loridan erschien. Bei ihrer letzten Begegnung hatte der Ritter nach Wochen auf dem Krankenlager blass und schwach ausgesehen, und dieses Bild hatte Deryn während seiner Reise immer vor Augen gehabt. Nun war Loridans Gesicht wieder von der Sonne gebräunt, und seine grauen Augen funkelten lebhaft wie eh und je.
»Deryn, du verstehst mich nicht. Ich bin nicht hier, um den Anblick zu genießen. Ich versuche, eine wichtige Entscheidung zu treffen – ob ich wieder in die Gilde zurückkehren werde oder nicht.«
»Ja, Loridan, ich verstehe dich wirklich nicht. Warum hast du die Gilde verlassen? War es wegen deiner Verletzung? Willst du mir nicht die ganze Geschichte erzählen?«
Unruhig blickte Deryn zum Himmel auf – auch wenn sie zwischen Balken und Trümmern verborgen waren, schien ihm ihr gegenwärtiger Aussichtspunkt nicht der richtige Ort für lange Gespräche zu sein.
»Also gut«, seufzte Loridan. »Ich will dir erzählen, was mich bewegt. Du bist nach Herubald erst der Zweite, der diese Geschichte zu hören bekommt. Nicht einmal gegenüber Eldilion war ich völlig offen. Du weißt, dass ich vor einem Vierteljahr mit Herubald einen Drachen
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