Brüder der Drachen
sagte Danira. »Gerade eben. Ich habe eine zerstörte Stadt gesehen und fünf Gestalten in einem fünfzackigen Stern aus Licht. Ich weiß nicht, ob es wirklich nur ein Traum war. In den letzten Wochen habe ich mehrmals Dinge geträumt, die später tatsächlich geschehen sind.«
»Es mögen die Alten sein, die du gesehen hast. Vielleicht sind sie eben gerade dabei, einen Zauber zu weben. Vielleicht ist es auch die Zukunft, die einen Schatten vorausgeworfen hat. Wenn der Traum dir keine weiteren Einzelheiten vermittelt hat, dann ist er wohl ohne Bedeutung.«
Eine Weile blickten die beiden Kinder schweigend aufs Meer hinaus, als plötzlich ein seltsamer Laut die Stille der Nacht durchbrach. Es klang wie das Klagen einer einsamen Kreatur, ein unmenschliches Heulen, das weithin hörbar über die ruhige See schallte. Eine kalte Hand schien nach Daniras Herz zu greifen, denn sie erkannte das Geräusch, das sie bereits in ihrem Schlaf gestört hatte. Es klang nicht wie der Schrei eines Dämons, und dennoch sandte es einen Schauder über ihren Rücken.
»Was war das?«, fragte sie.
»Wer weiß? Vielleicht irgendeine Kreatur der tiefen See, die an die Oberfläche gekommen ist, um das Licht der Himmelswanderer zu begrüßen. Ich lausche diesem Lied bereits seit einer Weile.«
»Man nennt sie Meeresengel«, sagte eine tiefe Stimme, die Danira erschreckt auffahren ließ. »Eril-Angoths Licht lockt sie an. Weit draußen auf dem Meer ist ihre Heimat, und in wolkenlosen Nächten ist ihr Gesang zu hören. Jeder Seefahrer kennt sie, an die Küsten wagen sie sich allerdings nur selten.«
Raydan war leise an die beiden Kinder herangetreten, und er legte seine Hände auf ihre Schultern. Der Kapitän des Seedrachen war ein großer Mann, fast so groß wie Loridan. Sein wettergegerbtes Gesicht war von Falten zerfurcht, doch sein dunkles Haar war noch nicht ergraut. Seine tief gebräunten Arme waren mit gewaltigen Muskeln bepackt. Trotz seiner massiven Gestalt bewegte der Kapitän sich fast lautlos über die Planken seines Schiffes.
»Es gibt viele Geschichten über sie«, fuhr er fort. »Auch wenn nur wenige Menschen sie je aus der Nähe gesehen haben. Es heißt, dass sie aussehen wie Menschen, aber eine silberne schuppige Haut besitzen. Auf dem Grund der See sollen sie Paläste und Städte haben, in denen sie leben. Und manchmal überfallen sie Schiffe und ziehen die Matrosen mit sich in die Tiefe, damit die Unglücklichen ihnen dort als Sklaven dienen.«
»Ist das wahr?«, fragte Danira.
»Ich weiß es nicht.« Raydan lachte leise, als er den besorgten Blick in Daniras Gesicht erkannte. »Und ich wollte euch nicht erschrecken. Vielleicht ist es nur eine der vielen Geschichten, die die Seeleute abends in den Hafenschenken erzählen. Trotzdem solltet ihr nicht alleine hier auf dem Deck sein. Konntet ihr nicht schlafen?«
»Ja. Ich hatte einen Traum«, sagte Danira. »Und dieses Singen hat mich geweckt.«
»Es wird weitergehen – den Rest der Nacht hindurch, solange Eril-Angoth noch am Himmel steht. Du solltest dich wieder schlafen legen. Ihr beide solltet das.«
Er blickte mit den Kindern in östlicher Richtung aufs Meer hinaus, von wo erneut ein lang gezogener Klagelaut zu hören war. Kaum war dieser Ruf verstummt, als sich aus einer anderen Richtung eine weitere Stimme erhob; sie griff das Lied der ersten Stimme auf und wiederholte es in einer tieferen Tonlage. Mit einem Seufzen wandte Danira sich von der Reling ab, und sie nickte dem Kapitän zu.
»Ich will es versuchen«, sagte sie. »Kommst du mit, Timon?«
»Nein, ich will noch eine Weile nachdenken.« Der Junge drehte sich nur kurz zu Danira um und blickte dann wieder aufs Meer hinaus.
Leise kehrte Danira in ihre Kabine zurück und bettete sich in der schaukelnden Hängematte. Sie schloss ihre Augen, und wieder hörte sie das Singen, nun gedämpft durch die hölzernen Wände. Fast gegen ihren Willen wiegten das traurige Lied und das Schaukeln des Schiffes sie in den Schlaf. Und kaum hatte der Schlaf begonnen, da kamen auch die Träume zurück. Doch nun waren es Visionen von endlosen Ozeanen, in denen sich fremdartige Kreaturen in Eril-Angoths rotem Licht badeten.
*
Auf dem Tempelplatz brütete immer noch die Hitze des Tages, auch wenn die Sonne nun tief stand und nur noch einen kleinen Bereich der weiten Fläche erleuchten konnte. Eine Schar von Nunis hatte sich in dem sonnenbeschienenen Winkel aneinandergedrängt, eine blau schillernde Masse von kleinen gefiederten
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