Brüder der Drachen
Frühlingsnacht in das Zimmer hinein. Danira bemerkte nicht, dass es rasch kälter wurde, denn sie hatte sich fest in ihre warmen Decken gehüllt. Sie sah nicht, wie ein dunkler Schatten sich ihrem Fenster näherte und sich auf dem Fensterbrett niederließ. Und auch wenn sie wach gewesen wäre, hätte sie den dunklen Fleck, der zwei oder drei Handspannen groß war, kaum wahrgenommen. Es war, als hätten die Schatten der Dämmerung, die sich überall ausbreiteten, sich an einer Stelle verdichtet, um einen Vorboten der kommenden Finsternis zu erzeugen. Trotzdem war es nicht nur ein Schatten, denn dieser dunkle Fleck bewegte sich aus eigenem Antrieb. Ein aufmerksamer Beobachter hätte vielleicht die Bewegung dunkler Schwingen innerhalb des Schattens bemerkt oder das sanfte Kratzen von Klauen auf dem Holz des Fensterrahmens gehört. Das Wesen sah sich eine Weile in dem Zimmer um und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf das schlafende Mädchen. In den Augen des Dämons begann ein rotes Licht zu glimmen.
Tief und traumlos war Daniras Schlaf zunächst gewesen, doch bald wurde sie unruhig, und seltsame Bilder drängten sich in ihren Geist. Sie sah ein Symbol vor sich – einen senkrechten Strich, dessen oberes Ende eine geschwungene, waagerechte Linie berührte. Von der senkrechten Linie zweigten drei Verästelungen schräg nach unten ab – eine auf der linken und zwei auf der rechten Seite. Danira kannte dieses Symbol, es glich dem Amulett, das Timon ihr geschenkt hatte. Bis auf einen Unterschied: Ihr Amulett hatte nur eine schräge Verzweigung auf jeder Seite. Sie sah das seltsame Symbol immer größer vor sich, es schien zu schimmern wie Silber. Und sie hörte eine Stimme, die leise aber drängend zu ihr sprach.
»Woher hast du dieses Amulett?«
Obwohl Daniras Sinne von den Schleiern des Schlafes benebelt waren, erwachte Misstrauen in ihr. Schon zweimal zuvor hatte sie diese Frage gehört – erst von Angbold und später auch von Grimstan. Der Ausdruck in Angbolds Auge hatte ihr nicht gefallen, als er diese Frage gestellt hatte. Und hatte Grimstan nicht auch etwas in seinem Blick, das Angbold ähnelte? Trotz seiner mürrischen Härte strahlten Grimstans Augen aber auch Güte aus. Sie sah wieder Angbolds Auge vor sich, als sie die gleiche Stimme ein zweites Mal zu hören glaubte.
»Woher hast du dieses Amulett? Sprich, Mädchen!«
Die Stimme war körperlos, und Danira konnte sie keinem Menschen zuordnen, der jemals zu ihr gesprochen hatte. Aber die Erinnerung an die gleiche Frage, die sie aus Angbolds Mund gehört hatte, weckte den Widerwillen in ihr.
»Nein!« Ihr Geist formte die Antwort, die sie dem unheimlichen Befrager entgegenschleuderte.
»Warum wehrst du dich, Mädchen? Sage mir, woher du das Amulett hast – dann kannst du in Ruhe weiterschlafen.« Die Stimme hatte ein wenig von ihrer Härte verloren, oder sie zumindest hinter einer Antäuschung von Güte versteckt. Unruhig wälzte Danira sich im Schlaf hin und her. Warum war dieser Traum so hartnäckig? Und wenn es ein Traum war, warum konnte sie dann darüber nachdenken, was sie träumte? Wäre es nicht besser, einfach wach zu werden, um diesen Traum zu beenden? Trotz ihrer Bemühungen schaffte sie es nicht, das Gespinst des Traumes abzuschütteln und die Augen zu öffnen. Stattdessen fühlte sie einen Schmerz, der tief in ihrem Inneren zu entstehen schien und sich langsam in alle ihre Glieder ausbreitete. Warum wurde sie nicht wach?
»Du kannst jetzt nicht aufwachen. Und du kannst nicht aufhören zu träumen. Sage mir, woher du das Amulett hast!« Die Stimme hatte ihre frühere körperlose Härte wiedergewonnen. Vor Schmerzen gekrümmt wälzte Danira sich in ihrem Bett, immer noch entschlossen, der drängenden Stimme nicht nachzugeben. Sie wollte das Leben einer Kämpferin führen, also würde sie sich nicht von schlechten Träumen einschüchtern lassen. Aber was nützte ein Schwert gegen einen Traum? Das Schwert! Der Gedanke an die Waffe festigte ihren Geist und half ihr, sich der zauberischen Kraft des Traumes zu widersetzen. Sie tastete im Halbschlaf mit ihrem rechten Arm unter das Bett, wo ihr Schwert verborgen war. Endlich schloss sich ihre Hand um den Griff der Waffe, und sofort hörte der Traum auf – sie war wach!
Alles, was Danira erkennen konnte, war das offene Fenster – eine düstere, graue Fläche, umrahmt von der Schwärze ihres Zimmers. Nur langsam konnten ihre Augen die Konturen einer tieferen Dunkelheit erfassen, die sich gegen
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