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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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war kein Zufall, denkt er, es war nicht Glück. Er sieht seinen Körper, winzig und flach, die gleißend weiße Kreidewand der Zukunft erklimmen – spürt seine Hände nach einem Halt tasten, spürt den Fels dicht unter seiner Wange, das ziehende Schwindelgefühl im Magen; oh, wie lange klettert er schon! Louise zog ihn eng an sich. Er ließ sich gegen sie sinken, schläfrig. »So ein Irrsinn«, flüsterte sie. Sie streichelte sein Haar.
    Sie brachte ihm einen Kaffee. Schön stillhalten, sagte sie. Er sah dem Kaffee beim Kaltwerden zu. Die Luft um ihn knisterte. Er untersuchte seine rechte Handinnenfläche. Ihr Finger strich über den haarfeinen Schnitt. »Wo ich mir den nur geholt habe? Ich kann mich nicht erinnern, aber wenn man bedenkt, dass Leute zu Tode gedrückt und getrampelt worden sind …«
    »Sie sind ein Glückskind«, sagte sie. »Auch wenn man bis jetzt nicht drauf gekommen wäre.«
    François Robert kam nach Hause. Er blieb an der Türschwelle stehen und küsste seine Frau auf den Mund. Er zog seinen Rock aus und gab ihn ihr. Dann stellte er sich bedächtig vor den Spiegel und kämmte sein lockiges schwarzes Haar, während Louise wartend neben ihm stand; ihr Kopf reichte knapp bis zu seiner Schulter. Als er fertig war, sagte er: »Die Bastille ist gefallen.« Er kam durchs Zimmer und sah auf Camille herab. »Obwohl du hier warst, warst du doch auch dort. Augenzeugen haben dich gesehen, du warst die treibende Kraft bei der Erstürmung – auf dem Fuße gefolgt von Hérault de Séchelles.« Er trat weg von ihm. »Ist noch Kaffee da?« Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Jegliche Normalität ist ausgesetzt.« Er sagte es wie zu einem Idioten oder einem kleinen Kind. Er zog seine Stiefel aus. »Von jetzt an wird alles anders sein.«
    Glaubt ihr das nur, sagte Camille müde. Er konnte nicht recht aufnehmen, was zu ihm gesagt wurde. Die Gesetze der Schwerkraft gelten noch immer, aus dem Boden tief unter ihm ragen Nägel. Selbst an der Spitze des Kliffs gibt es Spalten und Abstürze, nackte Hohlwege, deren Wände aufragen wie die Wände des Grabes. »Ich habe geträumt, ich wäre tot«, sagte er. »Ich habe geträumt, ich wäre begraben worden.« Ein schmaler Pfad führt ins Herz des Gebirges, steinig, trügerisch, die beschwerliche, öde Landschaft der Seele. Hör mit dem Lügen auf, sagt er zu sich. Ich habe nichts dergleichen geträumt, ich habe von Wasser geträumt. Ich habe geträumt, ich läge blutend in der Gosse. »Man sollte meinen, mein Stottern wäre verschwunden«, sagte er. »Aber so ein Glückskind bin ich scheint’s auch wieder nicht. Hättet ihr wohl etwas Papier für mich? Ich muss an meinen Vater schreiben.«
    »Tu das, Camille«, sagte François. »Sag ihm, dass sein Sohn ein berühmter Mann ist.«

DRITTER TEIL
Vielen Leuten erzählen, dass man sehr angesehen sei. Sie wiederholen es, und diese Wiederholungen werden für den Ruf sorgen.
 
Ich will schnell leben …
 
    Theorie des Ehrgeizes
    Jean-Marie Hérault de Séchelles

1. Novizen
    (1789)
    Monsieur Soulès, einer der Pariser Wahlmänner, war allein auf den Wehrmauern der Bastille. Sie hatten ihn am frühen Abend geholt und gesagt: Lafayette will Sie sprechen. De Launay ist tot, sagten sie, deshalb sind bis auf weiteres Sie der Kommandant. O nein, sagte er, wieso ich?
    Stellen Sie sich nicht so an, Mann, hatten sie gesagt, jetzt passiert ja nichts mehr.
    Drei Uhr nachts auf der Wehrmauer. Seine müden Wachen hatte er fortgeschickt. Die Nacht war schwarz wie eine verlorene Seele. Unten in Saint-Antoine heulte ein Hund klagend zu den Sternen empor. Ein Stück links von ihm züngelte eine Fackel in einer Wandhalterung zaghaft gegen die Dunkelheit an, flackerte über klamme Steine, wimmernde Geister.
    Jesus, Maria und Joseph, helft uns jetzt und in der Stunde unseres Todes.
    Vor seiner Nase plötzlich ein Brustkorb. Ein Brustkorb und eine Musketenmündung.
    Man muss doch angerufen werden, schoss es ihm wild durch den Kopf, man muss fragen dürfen, Freund oder Feind? Und wenn der andere sagt, Feind, und trotzdem kommt?
    »Wer sind Sie?«, fragte der Brustkorb.
    »Ich bin der Kommandant.«
    »Der Kommandant ist tot und in Stücke gehackt.«
    »Das weiß ich. Ich bin der neue Kommandant. Lafayette hat mich berufen.«
    »Ach so? Lafayette hat ihn berufen«, sagte der Brustkorb. Gekicher klang aus der Dunkelheit. »Zeigen Sie mal Ihre Urkunde her.«
    Soulès langte in seine Innentasche und händigte das Stück Papier aus, das er diese

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