Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
reichen für: die Miete, Kerzen, Kochfett, Gemüse, Wein. Fleisch gibt es nur zu besonderen Anlässen. Am wichtigsten ist das Brot.
Die Versorgung ist straff durchorganisiert, reguliert. Was die Bäcker abends noch übrig haben, muss billiger verkauft werden; die Mittellosen essen erst, wenn sich die Nacht über die Märkte senkt.
Alles geht seinen geregelten Gang, doch nach jeder Missernte – 1770 zum Beispiel oder 1772 oder 1774 – steigen die Preise unerbittlich: Im Herbst 1774 kostet ein Vierpfünder elf Sous, im folgenden Frühjahr bereits vierzehn. Die Löhne steigen nicht. Die Bauarbeiter sind immer rebellisch, die Weber ebenso, auch die Buchbinder und die (bedauernswerten) Hutmacher, doch Streiks zielen selten auf eine Lohnerhöhung ab, sondern wenden sich meist gegen eine Kürzung. Die übliche Widerstandsform des städtischen Arbeiters ist nicht der Streik, sondern der Brotaufstand, daher korrespondieren die Temperaturen und der Niederschlag über einem fernen Getreidefeld direkt mit dem Spannungskopfschmerz des Polizeidirektors. Wenn das Getreide knapp wird, geht jedes Mal derselbe Aufschrei durchs Volk: ein Hungerpakt! Spekulanten und Hamsterer werden verantwortlich gemacht. Die Müller, so heißt es, haben sich verschworen, um die Schlosser, Hutmacher, Buchbinder und ihre Kinder verhungern zu lassen. In den Siebzigern führen die Verfechter wirtschaftlicher Reformen den Freihandel für Getreide ein, sodass sich auch die benachteiligten Regionen des Landes auf dem offenen Markt behaupten müssen. Doch es braucht nur einen kleinen Aufstand oder zwei, und schon wird der Markt wieder reguliert. 1770 hatte der Generalkontrolleur der Finanzen, Abbé Terray, gleichsam im Handstreich wieder Preiskontrollen, Steuern und Beschränkungen im Getreidehandel in Kraft gesetzt. Er holte keine anderen Meinungen ein, sondern handelte auf königlichen Erlass. »Despotie!«, riefen die, die an jenem Tag gegessen hatten.
Das Brot ist der Dreh- und Angelpunkt: Spekulationsobjekt, Grundlage sämtlicher Theorien darüber, was als Nächstes geschehen wird. Fünfzehn Jahre später, am Tag des Sturms auf die Bastille, wird der Brotpreis in Paris so hoch sein wie seit sechzig Jahren nicht mehr. Zwanzig Jahre später, als alles vorbei ist, wird eine Frau aus der Hauptstadt sagen: »Unter Robespierre ist Blut geflossen, aber die Leute hatten Brot zu essen. Vielleicht muss etwas Blut vergossen werden, wenn man Brot haben will.«
Der König berief einen Mann namens Turgot ins Ministerium und ernannte ihn zum Generalkontrolleur der Finanzen. Turgot war achtundvierzig Jahre alt, ein neuer Mann, ein Rationalist, der nach den Grundsätzen des laissez-faire handelte. Er war energiegeladen, sprudelte über vor Ideen, vor Reformen, von denen seiner Ansicht nach das Überleben des Landes abhing. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, eine Kürzung der Ausgaben in Versailles zu fordern. Der Hof war schockiert. Malesherbes, ein Mitglied des Hofstaats, riet Turgot, vorsichtiger vorzugehen, er mache sich zu viele Feinde. »Die Menschen leiden enormen Mangel«, erwiderte Turgot schroff. »Und in meiner Familie sterben wir mit fünfzig.«
Im Frühjahr 1775 kam es in vielen Marktflecken zu Aufständen, insbesondere in der Picardie. In Versailles versammelten sich achttausend Städter vor dem Palast und blickten hoffnungsvoll zu den königlichen Fenstern hoch. Wie immer glaubten sie, das persönliche Eingreifen des Königs könne all ihre Probleme lösen. Der Gouverneur von Versailles versprach, dass man den Getreidepreis in der Stadt stützen werde. Man ließ den neuen König von einem Balkon aus zum Volk sprechen. Dann zerstreute sich die Menge friedlich.
In Paris plünderten Mobs die Bäckereien am linken Ufer der Seine. Die Polizei nahm einige Leute fest, hielt sich zurück, vermied direkte Zusammenstöße. 162 Leute kamen vor Gericht. Zwei Plünderer, der eine ein Sechzehnjähriger, wurden am 11. Mai um drei Uhr nachmittags auf der Place de Grève erhängt, um ein Exempel zu statuieren.
Im Juli 1775 wurde ein Besuch des jungen Königs und seiner hübschen Gemahlin im Collège Louis-le-Grand arrangiert. Nach einer Krönung diese Art von Besuch abzustatten war Tradition; allerdings würden die beiden nicht länger verweilen, da sie Unterhaltsameres zu tun hatten. Geplant war, sie mit ihrem Gefolge am Haupttor zu empfangen, wo sie, der Kutsche entstiegen, der Ergebenheitsadresse lauschen würden, die der fleißigste und
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