Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
daraus, Robespierre, das hätte jedem passieren können.«
Und da schließlich lächelte der junge Stipendiat.
Das war in Paris, im Juli 1775. In Troyes hatte Georges-Jacques Danton derweil etwa die Hälfte seines Lebens hinter sich gebracht. Seine Familie wusste das natürlich nicht. Er war ein guter Schüler, hatte allerdings noch keine Vorstellung davon, wo einmal sein Platz im Leben sein würde. Seine Zukunft war häufig Gesprächsthema in der Familie.
In Troyes also saß eines Tages ein Mann neben der Kathedrale und zeichnete Porträts. Er versuchte die Passanten zu skizzieren, blickte ab und zu in den Himmel und summte vor sich hin. Ein populärer Ohrwurm.
Niemand wollte sich skizzieren lassen, alle eilten an ihm vorbei. Es schien ihn nicht zu stören – er war offenbar ganz in seinem Element an diesem schönen, heiteren Nachmittag. Er war ein Fremder, ein bisschen dandyhaft, mit Pariser Flair. Georges-Jacques Danton blieb vor ihm stehen, ja er gebärdete sich recht auffällig. Er wollte die Arbeiten des Mannes sehen und mit ihm ins Gespräch kommen. Er sprach oft Leute an, vor allem Fremde. Er wollte etwas über ihr Leben erfahren.
»Hast du Lust und Zeit, dich porträtieren zu lassen?« Der Mann blickte bei seiner Frage nicht auf, er befestigte gerade einen frischen Bogen auf seinem Brett.
Der Junge zögerte.
Der Künstler sagte: »Du bist Schüler und hast kein Geld, das ist mir klar. Aber ein Gesicht hast du – großer Gott, du musst ganz schön was hinter dir haben! So ein Narbengesicht habe ich noch nie gesehen. Bleib einfach ganz ruhig stehen, damit ich ein paar Kohlezeichnungen von dir machen kann. Du kriegst auch eine davon.«
Georges-Jacques stand da und ließ sich zeichnen. Er beobachtete den Mann aus den Augenwinkeln. »Nicht reden«, sagte der Künstler. »Mach einfach dieses finstere, furchterregende Gesicht – ja, genau so –, und ich rede so lange mit dir. Ich heiße Fabre, Fabre d’Églantine. Ein komischer Name, findest du. Warum d’Églantine, willst du wissen? Tja, da du mich fragst: Im Literaturwettstreit 1771 wurde ich durch die Akademie von Toulouse mit einem Heckenrosenkranz geehrt. Eine außergewöhnliche, begehrte, denkwürdige Ehrung, meinst du nicht? Gut, ein kleiner Goldbarren wäre mir natürlich lieber gewesen, aber was soll’s? Meine Freunde haben mich bestürmt, ich solle zum Gedenken an dieses Ereignis meinen eigenen schlichten Namen um den Zusatz d’Églantine ergänzen. Dreh den Kopf ein bisschen. Nein, zur anderen Seite. Hm, denkst du jetzt – wenn dieser Bursche für seine literarischen Leistungen gefeiert wird, warum steht er dann auf der Straße und zeichnet?«
»Sie sind wahrscheinlich sehr vielseitig«, sagte Georges-Jacques.
»Einige der hiesigen Würdenträger haben mich eingeladen, aus meinem Werk zu lesen«, sagte Fabre. »Nur wurde leider nichts daraus. Ich habe mich mit meinen Gönnern zerstritten. Du hast sicher schon gehört, dass so etwas bei Künstlern vorkommt.«
Georges-Jacques beobachtete ihn, so gut es ging, ohne den Kopf zu drehen. Fabre war Mitte zwanzig, nicht groß, mit ungepudertem, kurzgeschnittenem dunklen Haar. Sein Mantel war ordentlich gebürstet, doch an den Ärmelaufschlägen abgewetzt, die Kleidung darunter abgetragen. Alles, was er sagte, war ernst gemeint und zugleich auch wieder nicht. Er schien mit Gesichtsausdrücken zu experimentieren.
Fabre wechselte den Bleistift. »Ein bisschen nach links«, sagte er. »Vielseitig, sagst du – in der Tat bin ich Dramatiker, Regisseur, Porträtist – wie du merkst – und Landschaftsmaler; zudem Komponist und Musiker, Dichter und Choreograph. Ich schreibe Essays zu sämtlichen Themen, die von allgemeinem Interesse sind, und spreche mehrere Sprachen. Ich würde mich auch gern als Landschaftsgärtner versuchen, aber niemand will mich beauftragen. Die Welt ist offenbar noch nicht bereit für mich – ich kannn es nicht anders sagen. Bis letzte Woche war ich außerdem Wanderschauspieler, aber mir ist meine Truppe abhandengekommen. »
Er war fertig. Er ließ den Bleistift fallen, kniff die Augen zusammen, hielt die beiden Zeichnungen mit ausgestrecktem Arm vor sich und betrachtete sie. »Voilà«, entschied er dann. »Nimm diese, das ist die bessere.«
Sein eigenes unschönes Gesicht blickte Danton entgegen: die lange Narbe, die eingedrückte Nase, das dichte Haar, das von der Stirn nach hinten wuchs.
»Wenn Sie einmal berühmt geworden sind«, sagte er, »wird das vielleicht viel
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