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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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verdienstvollste Schüler des Collège verlesen sollte. Als der große Tag kam, war das Wetter schlecht.
    Anderthalb Stunden bevor mit der Ankunft der Gäste gerechnet werden konnte, versammelten sich Schüler und Lehrerschaft am Tor zur Rue Saint-Jacques. Ein Trupp berittener Polizisten erschien, drängte sie zurück und ordnete die Schar ziemlich unsanft neu. Aus vereinzelten Regentropfen wurde ein steter Nieselregen. Dann kamen die Diener, Leibwächter und Hofleute; als sie schließlich Aufstellung genommen hatten, waren alle nass und durchgefroren, und keiner versuchte mehr, sich auf einen besseren Platz zu drängeln. Niemand erinnerte sich mehr an die letzte Krönung, daher hatte auch niemand geahnt, dass das Ganze so lange dauern würde. Die Schüler standen in kläglichen Grüppchen zusammen, traten von einem Fuß auf den anderen und warteten. Wenn jemand auch nur einen Moment lang ausscherte, wurde er von den Polizisten mit gezogener Waffe zurückgetrieben.
    Schließlich näherte sich die königliche Kutsche. Alle stellten sich auf die Zehenspitzen, den Hals gereckt; die Jüngeren klagten, sie sähen nichts, und das sei ungerecht, nachdem sie doch so lange gewartet hätten. Pater Poignard, der Schulleiter, trat vor und verbeugte sich. Zur königlichen Karosse gewandt, sprach er ein paar Begrüßungsworte, die er sich vorher zurechtgelegt hatte.
    Der junge Stipendiat hatte einen trockenen Mund. Seine Hand zitterte ein wenig. Aber im Lateinischen würde niemand seinen ländlichen Akzent bemerken.
    Die Königin steckte kurz ihren hübschen Kopf hinaus und zog ihn wieder zurück. Der König winkte und murmelte einem livrierten Mann etwas zu, der es mit einem Grinsen an die Reihe von Polizisten weitergab, die es wiederum der wartenden Allgemeinheit pantomimisch vermittelte. Jetzt war allen klar: Sie würden nicht aussteigen. Die Adresse an Ihre Majestäten musste verlesen werden, während sie gemütlich in ihrer Kutsche saßen.
    Pater Poignard schwirrte der Kopf. Er hätte Teppiche auslegen, Baldachine aufstellen, eine Art provisorischen Pavillon errichten lassen sollen, vielleicht im derzeit modernen ländlich-rustikalen Stil mit grünen Zweigen geschmückt, vielleicht mit dem königlichen Wappen oder den aus Blumen geformten verschlungenen Initialen der Monarchen. Er wirkte verstört, reuig, abwesend. Glücklicherweise dachte Pater Herivaux daran, dem jungen Stipendiaten zuzunicken.
    Der Junge begann, und nach den ersten nervösen Sätzen wurde seine Stimme fester. Pater Herivaux entspannte sich; er hatte die Adresse verfasst und sie mit dem Jungen einstudiert. Und sie klang gut, er war zufrieden.
    Man sah die Königin frösteln. »Ah!«, machte die Welt. »Sie hat gefröstelt!« Eine halbe Sekunde später unterdrückte sie ein Gähnen. Der König wandte sich ihr aufmerksam zu. Doch was war das? Der Kutscher griff nach den Zügeln! Die ganze behäbige Entourage setzte sich quietschend und knarrend in Bewegung. Sie fuhren weg – der Willkommensgruß nicht zur Kenntnis genommen, die Ergebenheitsadresse nicht einmal zur Hälfte verlesen.
    Der junge Stipendiat schien nicht zu bemerken, was geschah. Er hielt einfach weiter seine Rede. Sein Gesicht war blass und reglos, er blickte stur geradeaus. Er musste doch gemerkt haben, dass sie bereits die Straße entlangfuhren?
    Die Luft schwang von unausgesprochenen Gefühlen: Ein Trimester lang haben wir uns auf diesen Moment vorbereitet … Die dicht gedrängte Schar trat unentschlossen auf der Stelle. Der Regen war stärker geworden. Es schien unhöflich, sich aus der Menge zu lösen, um Schutz zu suchen, doch andererseits auch wieder nicht unhöflicher als das Verhalten von König und Königin, die einfach so weggefahren waren und Dingsda mitten in seiner Rede auf der Straße hatten stehen lassen …
    Pater Poignard sagte: »Das ist nicht persönlich gemeint. Das hat ja wohl nichts mit uns zu tun? Ihre Majestät war müde …«
    »Man hätte genauso gut Japanisch mit ihr reden können, würde ich mal sagen«, ließ sich der Schüler direkt neben ihm vernehmen.
    Pater Poignard sagte: »Da hast du ausnahmsweise einmal recht, Camille.«
    Der junge Stipendiat war am Ende seiner Rede angelangt. Ohne den Anflug eines Lächelns entbot er den längst entschwundenen Monarchen einen innigen, treu ergebenen Abschiedsgruß und äußerte die Hoffnung, dass die Schule irgendwann einmal die Ehre haben werde …
    Eine Hand senkte sich tröstend auf seine Schulter. »Mach dir nichts

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