Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
Vom Netzwerk:
Würdiges?
    Camille starrt auf den Teppich, aber vor seinem Auge steht Guise. Der Brief, den er schreiben will, ist in seinem Kopf längst geschrieben. Unsichtbar gleitet er, Camille, über die Place des Armes. Er schlüpft durch die geschlossene Eingangstür des schmalen weißen Hauses. Er stiehlt sich ins Arbeitszimmer seines Vaters. Da, auf dem Schreibtisch, liegt die Große Enzyklopädie des Rechts ; bewegen wir uns inzwischen wenigstens auf das Ende des Alphabets zu?
    Doch – wir sind bei Band VI . Obenauf liegt ein Brief aus Paris. In wessen Handschrift? In seiner eigenen! Der Handschrift, über die seine Verleger sich immer beschweren, seinem unnachahmlichen Gekrakel! Die Tür geht auf. Herein kommt sein Vater. Wie sieht er aus? Ganz so wie beim letzten Mal – hager, grau, streng, unnahbar.
    Er sieht den Brief. Aber halt, nein – wie ist der Brief dort hingelangt, wie kommt es, dass er auf der Großen Enzyklopädie des Rechts liegt? Unplausibel – es sei denn, er erfindet eine komplette Szene hinzu, in der der Brief ankommt und seine Mutter oder Clément oder wer auch immer ihn nach oben tragen, ohne ihn wenigstens einen Spalt weit zu öffnen und hineinzulinsen.
    Also gut, noch einmal von vorn.
    Jean-Nicolas steigt die Treppe hinauf. Camille (Camilles Geist) heftet sich an seine Fersen. Jean-Nicolas hat einen Brief in der Hand. Er wirft einen Blick darauf; es ist die vertraute unleserliche Schrift seines Ältesten.
    Drängt es ihn, ihn zu lesen? Nicht sonderlich. Aber der Rest der Familie verlangt von unten zu wissen, was es Neues aus Paris gibt.
    Er faltet ihn auf. Entziffert ihn mühsam – aber alle Mühsal ist schlagartig vergessen, als er die Mitteilung liest, die sein Sohn ihm macht.
    Jubel, Überwältigung! Der beste Freund meines Sohnes (nun gut, einer seiner zwei besten Freunde) zum Minister ernannt! Mein Sohn sein zukünftiger Staatssekretär! Er wird in einem Palast leben!
    Jean-Nicolas presst den Brief an seine Hemdbrust – ein paar Fingerbreit über dem Wams, aber weiter links, über dem Herzen. Wir haben den Jungen verkannt! Er ist eben doch ein Genie! Ich muss sofort loslaufen und es der ganzen Stadt erzählen – sie werden sich schwarz ärgern, sie werden grün werden vor Neid, Gift und Galle werden sie spucken. Rose-Fleurs Vater wird Asche auf sein Haupt streuen. Sie könnte jetzt Gattin eines Staatssekretärs sein!
    Aber nein, denkt Camille – nichts dergleichen wird passieren. Wird Jean-Nicolas in aller Schnelle einen Glückwunsch an seinen Sohn aufs Papier werfen? Wird er sich den Hut über seine gestrengen grauen Locken stülpen und hinausstürmen, um die Nachbarn mit der frohen Botschaft zu überfallen? Nie im Leben. Er wird auf den Brief starren; o nein, wird er stöhnen, o nein! Er wird denken: Mit was für Ungeheuerlichkeiten hat sich mein Sohn diese Ehre erkauft? Und Stolz? Er wird keinerlei Stolz empfinden. Nur Argwohn, nur ein Gefühl des Betrogenseins. Er wird ein undeutliches Ziehen und Stechen im Kreuz spüren und sich ins Bett legen.
    »Camille, woran denkst du?«, fragt Lucile.
    Camille schaut auf. »Ich denke nur gerade, dass man es manchen Leuten nie recht machen kann.«
    Die Frauen schießen giftige Blicke auf Claude ab und scharen sich schützend um Camille.
    »Wenn es fehlgeschlagen wäre«, sagte Danton, »hätte man mich als Verbrecher behandelt.«
    Zwölf Stunden war es her, dass Camille und Fabre ihn mit der Aufforderung geweckt hatten, sich an die Spitze der Nation zu stellen. Aus einem wirren Traum voller Zimmer und Säle und Kammern und Türen gerissen, hatte er Camille in fiebriger Dankbarkeit an sich gezogen – obwohl das vielleicht nicht die angebrachte Reaktion war, vielleicht wäre ein nolo episcopari angemessener gewesen, ein Quäntchen Demut im Angesicht seiner Bestimmung? Nein – er war zu müde, um Zaudern zu heucheln. Er gebot über Frankreich, und nichts konnte richtiger sein.
    Am anderen Flussufer war die drängendste Frage, wie mit der Schweizergarde zu verfahren sei – den Toten ebenso wie den noch Lebenden. Aus dem ausgeräuberten Palast stiegen immer noch Rauchsäulen auf.
    »Als Siegelbewahrer?«, hatte Gabrielle gesagt. »Bist du dir da sicher? Camille könnte doch nicht mal auf zwei Kaninchen in einem Kaninchenstall aufpassen.«
    Und hier saß nun Robespierre in Dantons Samtsessel. Wie aus dem Ei gepellt sah er aus. Danton befahl, niemanden einzulassen – »niemanden außer meinen Staatssekretären« –, und schulterte die Aufgabe,

Weitere Kostenlose Bücher