Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
loszueisen: als wolltest du, sagte Anne-Madeleine, nach Amerika oder auf den Mond. Zunächst hatte es diverse Familienzusammenkünfte gegeben, alle Onkel hatten förmliche Besuche abgestattet und ihre Meinung zum Ausdruck gebracht. Von der Priesteridee hatte man Abstand genommen. In den vergangenen ein, zwei Jahren hatte Georges-Jacques sich in den kleinen Anwaltspraxen seiner Onkel und ihrer Freunde umgetan. Es war eine bescheidene Familientradition. Wie auch immer. Wenn er sich sicher sei, dass er diese Richtung einschlagen wolle …
Seine Mutter würde ihn vermissen, aber sie hatten sich auseinandergelebt. Sie war eine ungebildete Frau, die ihren Horizont bewusst verengt hatte. Die einzige Industrie, die es in Arcis-sur-Aube gab, war die Fabrikation von Nachthauben – wie konnte er ihr begreiflich machen, dass er diese Tatsache inzwischen als persönlichen Affront empfand?
In Paris würde ihm der Rechtsanwalt, in dessen Kanzlei er seinen Beruf erlernen würde, ein bescheidenes Kanzlistengehalt zahlen; später würde er Geld brauchen, um sich als Anwalt niederzulassen. Die Erfindungen seines Stiefvaters hatten das Familienvermögen angegriffen; der neue Webstuhl war besonders pannenanfällig. Vom Klappern und Quietschen der hin- und hertanzenden Schiffchen verwirrt, standen sie in der Scheune, starrten auf die kleine Maschine und warteten darauf, dass der Faden wieder riss. Von dem Geld, das der vor nunmehr achtzehn Jahren verstorbene M. Danton hinterlassen hatte, war ein Teil für dessen Sohn zur Seite gelegt worden. »Das wirst du für deine Erfindungen brauchen«, sagte Georges-Jacques. »Und mir wird es besser gehen, wenn ich das Gefühl habe, ganz neu anzufangen.«
Den ganzen Sommer über machte er Besuche bei der Verwandtschaft. Wenn ein tatkräftiger, energischer Junge nach Paris ging, kam er nicht mehr zurück – allenfalls noch zu Besuch, als distanzierter, erfolgreicher Mann. Daher war es angebracht, diese Aufwartungen zu machen und niemanden dabei zu übergehen, keinen entfernten Vetter, keine verwitwete Großtante. Er musste es sich in ihren kühlen, einander sehr ähnlichen Bauernhäusern bequem machen und seine Ziele und Ambitionen erläutern, seine Pläne ihrem Wohlwollen anheimgeben. Lange Nachmittage verbrachte er in den Wohnzimmern all der Witwen und unverheirateten Tanten, bei alten Damen, die nickend im gedämpften Sonnenlicht saßen, während der in der Luft schwebende, violett schimmernde Staub sich glorienartig um ihre Köpfe legte. Um Worte war er nie verlegen, das Problem kannte er nicht. Doch er hatte das Gefühl, sich mit jedem Besuch ein Stückchen weiter wegzubewegen.
Schließlich stand nur noch ein Besuch aus: bei Marie-Cécile im Kloster. Er folgte dem geraden Rücken der Novizenmeisterin durch einen totenstillen Korridor, fühlte sich auf groteske Weise zu groß, zu sehr als Mann, gezwungen, sich für sich selbst zu entschuldigen. Nonnen rauschten in ihren dunklen Gewändern vorbei, die Augen gesenkt, die Hände in die Ärmel geschoben. Er hatte nicht gewollt, dass seine Schwester hierherkam. Lieber wäre ich tot, dachte er, als eine Frau zu sein.
Die Nonne blieb stehen, wies ihn durch eine Tür. »Es ist sehr ungeschickt«, sagte sie, »dass unser Empfangszimmer so weit hinten im Gebäude liegt. Sobald wir die nötigen Mittel haben, werden wir eines nah am Tor bauen lassen.«
»Ich dachte, Ihr Haus sei reich, Schwester.«
»Dann sind Sie falsch informiert.« Sie rümpfte die Nase. »Einige unserer Postulantinnen kommen mit einer Mitgift, die kaum ausreicht, um den Stoff für ihre Tracht zu bezahlen.«
Marie-Cécile saß hinter einem Gitter. Er konnte sie nicht berühren, nicht küssen. Sie war bleich, oder vielleicht stand ihr auch nur das harte Weiß des Novizinnenschleiers nicht. Ihre blauen Augen waren klein und ruhig, genau wie seine.
Sie unterhielten sich, waren beide scheu und angespannt. Er erzählte ihr, was es an Neuigkeiten aus der Familie gab, schilderte seine Pläne. »Kommst du zu meiner Einkleidung?«, fragte sie. »Wenn ich mein Gelübde ablege?«
»Ja«, log er. »Wenn es geht.«
»Paris ist riesig. Wirst du dort nicht einsam sein?«
»Glaube ich nicht.«
Sie sah ihn ernst an. »Was erwartest du vom Leben?«
»Ich will vorwärtskommen.«
»Und was bedeutet das?«
»Na ja, es bedeutet wohl, dass ich eine gute Stellung will, dass ich Geld verdienen und respektiert werden will. Tut mir leid, aber es wäre Unsinn, dir da etwas vorzumachen. Ich möchte
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