Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Familie Orléans, genannt Égalité, dem Revolutionstribunal vorgeführt werden … und dass dem Tribunal die Aufgabe übertragen wird, gegen alle sonstigen Komplizen Dumouriez’ vorzugehen … Muss ich so illustre Patrioten wie die Herren Vergniaud oder Brissot nennen? Das überlasse ich der Weisheit des Konvents.«
Allzu viel Weisheit ließ sich dem Konvent nicht zubilligen, gemessen an den Szenen, die folgten. Von der Gironde hagelte es Bezichtigungen gegen Danton: Lüge, Verschleierung, Veruntreuung von Geldern. Als er zum Rednerpult schritt, schrie die Rechte ihre Lieblingsbeleidigung: Bluttrinker! Der Präsident vergrub das Gesicht in den Händen, den Tränen nahe, während Gegner miteinander rangelten, die Fäuste schwangen, und Bürger Danton Abgeordnete niederringen musste, die ihn gewaltsam daran hindern wollten, das Wort zu seiner Verteidigung zu ergreifen.
Robespierre sah vom Berg herab, sein Gesicht starr vor Entsetzen. Danton bestieg das Podium, eine Spur der Verwüstung hinter sich herziehend; der Tumult schien ihm Auftrieb zu geben. »Das Tageslicht birgt keine Schrecken für mich«, schleuderte er den Bänken der Rechten entgegen. Philippe Égalité merkte, dass die Kollegen beidseits ein Stück von ihm abgerückt waren, als wäre er Marat. Und hier kam Marat selbst, humpelnd hielt er auf das Podium zu, von dem Danton eben heruntertrat.
Er schob sich an Danton vorbei, ganz flüchtig streiften sich ihre Blicke. Er legte die Hand an die Pistole in seinem Gürtel, wie um sie schon einmal zu lockern. Seitlich zum Pult stehend, streckte er einen Arm an der Pultkante entlang und nahm die Zuhörerschaft über seine Länge hinweg ins Visier. Vielleicht, dachte Philippe Égalité, werde ich ihn das nie wieder tun sehen.
Marat legte den Kopf in den Nacken. Er sah in die Runde. Dann, nach einer ausgedehnten Kunstpause – lachte er.
»Der Mann verursacht mir eine Gänsehaut«, flüsterte der Abgeordnete Lebas Robespierre zu. »Er kommt mir vor wie ein Gespenst auf dem Friedhof.«
»Schscht«, machte Robespierre. »Hören Sie zu.«
Marat legte die Hand an das rote Tuch um seinen Hals und zog einmal kurz daran; das war das Signal, dass es ernst wurde. Er streckte den Arm wieder aus, bedrohlich nonchalant. Als er sprach, klang seine Stimme ruhig, leidenschaftslos. Sein Anliegen war ein sehr simples: Der Konvent möge die Immunität der Abgeordneten aufheben, damit sie einander den Prozess machen konnten. Die Linke und Rechte blickten sich an, jeder Deputierte sah schon seine persönlichen Feinde in langer Reihe die Stufen von Dr. Guillotins Enthauptungsmaschine erklimmen. Zwei Mitglieder der Bergpartei, die nur ein knapper Meter trennte, drehten sich zueinander um; ihre Blicke trafen sich und zuckten bestürzt zur Seite. Niemand sah Philippe ins Gesicht. Marats Antrag wurde angenommen, mit Befürwortern in allen Lagern.
Die Bürger Danton und Desmoulins verließen den Konvent gemeinsam, bejubelt von einer Menschenmenge, die sich draußen versammelt hatte. Sie gingen nach Hause. Es war ein klarer, kalter Aprilabend. »Ich hätte nichts dagegen, weit weg zu sein«, sagte Danton.
»Was machen wir mit Philippe? Wir können ihn nicht einfach Marat zum Fraß vorwerfen.«
»Vielleicht findet sich eine gemütliche Festung irgendwo in der Provinz, in die wir ihn eine Weile stecken können. Er wird im Gefängnis sicherer sein als auf freiem Fuß in Paris.«
Sie hatten ihren eigenen Bezirk erreicht, die Republik der Cordeliers. Auf den Straßen war es ruhig, die Nachricht von den Szenen im Konvent und von dem folgenschweren Dekret würde sich bald genug herumsprechen. In der ganzen Stadt hinkten Abgeordnete nach Hause, um ihre Prellungen und Verstauchungen zu kühlen. Hatten heute Nachmittag alle kurzzeitig den Verstand verloren? Der Bürger Danton jedenfalls wirkte wie ein Mann, der frisch von einer Rauferei kam, aber diesen Eindruck machte er oft.
An der Cour du Commerce blieben sie stehen. »Kann ich dir noch ein Gläschen Blut bei uns anbieten, Georges-Jacques? Oder sollen wir den Burgunder aufmachen?«
Sie gingen hinauf, entschieden sich für den Burgunder und saßen bis nach Mitternacht. Camille notierte sich die Eckpunkte der Streitschrift, die er abzufassen gedachte. Eckpunkte allein genügten allerdings nicht; jedes Wort musste ein kleiner Dolch sein, und er würde noch ein paar Wochen brauchen, um sie alle zu schärfen.
Manon Roland saß wieder in ihrer engen kleinen Wohnung in der Rue de la Harpe.
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