Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
als Probezuhörer für die Reden herhalten zu müssen, die Robespierre einstudiert; das kennt er seit ’89. Aber seit diesem aufgeladenen, leidenschaftlichen Moment im Haus der Duplays – »in meinem Herzen hattest du immer deinen Platz« – hat er das Gefühl, dass mehr von ihm erwartet wird. Robespierre entwickelt sich langsam, aber sicher zu einem dieser Menschen, in deren Gesellschaft man keine Minute ausspannen kann.
Zwei Tage später wird der Wohlfahrtsausschuss mit der Macht ausgestattet, Haftbefehle zu erlassen.
Jacques Roux, dessen Anhängerschaft wächst, verkündet, der neue Verfasser seines Nachrichtenblattes sei »der Geist Marats«. Hébert lässt die Jakobiner wissen, wenn Marat einen Nachfolger brauche – und der Adel ein neues Opfer –, so stehe er bereit. »Dieser unbegabte kleine Kerl«, sagt Robespierre. »Wie kann er es wagen?«
Am 8. August tritt Simone Evrard im Konvent ans Rednerpult und verliest eine passionierte Anklage gegen gewisse Subjekte, die die Sansculotten in den Untergang führen. All diese Ansichten, sagt sie, seien von dem Märtyrer, ihrem Ehemann, in seinen letzten Stunden geäußert worden. Es ist eine flüssige, selbstbewusst vorgetragene Tirade, nur gelegentlich stockt sie und beugt sich tiefer über ihre Aufzeichnungen, um Bürger Robespierres winzige, ungleichmäßige Schrift zu entziffern.
Eine Woche darauf erhielt der Ausschuss noch ein weiteres Mitglied, Lazare Carnot, den Militäringenieur, den Robespierre an der Akademie in Arras kennengelernt hatte. »Mir liegen Armeeleute nicht besonders«, sagte Robespierre. »Sie kennen nur ihren persönlichen Ehrgeiz und setzen so seltsame Prioritäten. Aber sie sind ein notwendiges Übel. Carnot«, fügte er distanziert hinzu, »schien zumindest immer zu wissen, wovon er redet.«
So Carnot – der Wegbereiter des Sieges, wie er später genannt wurde – aus der Sicht seines Wegbereiters Robespierre.
Als der Präsident des Revolutionstribunals verhaftet wurde (wegen Verdachts auf Versäumnisse beim Prozess gegen Marats Mörderin), trat an seine Stelle der Bürger Hermann, vordem Anwalt in Arras. War nicht er vor all diesen Jahren der Einzige gewesen, der Robespierres Bedeutung erkannt hatte? »Ich kannte ihn schon«, vertraute er Mme Duplay an, »als ich noch ein junger Mann war.«
»Was sind Sie denn jetzt Ihrer Meinung nach?«, fragte sie.
Der scheidende Präsident wurde von Gendarmen abgeführt, während die Sitzung in vollem Gange war. Auch Fouquier-Tinville besaß Sinn für Dramatik; offenbar lag es doch in der Familie.
Als der Innenminister sein Amt niederlegte, waren die beiden Kandidaten für seine Nachfolge Hébert und Jules Paré, der inzwischen ein angesehener Anwalt war. Paré bekam den Posten. »Jeder weiß natürlich, warum«, sagte Hébert. »Er war früher Kanzlist bei Danton. Wir tragen unsere Nase jetzt so hoch, dass wir nicht mehr selber arbeiten, nein, unsere Unterlinge üben ja an unserer Statt Macht aus. Seinen anderen Kanzlisten, Desforgues, hat er im Außenministerium installiert. Paré und Danton sind dicke Freunde. Genauso«, schob er nach, »wie früher Danton und Dumouriez.«
»Ekelhafter Gnom«, sagte Danton. »Reicht es ihm nicht, dass er das ganze Kriegsministerium mit seinen Kreaturen unterwandert hat und seine sogenannte Zeitung bei den Truppen zirkuliert?«
Er sprach bei den Jakobinern, erntete Applaus. Als er das Pult verließ, ergriff Robespierre das Wort. »Niemand«, verkündete er ihnen, »hat das Recht, auch nur den Hauch einer Kritik an Danton zu üben. Jeder, der ihn zu diskretieren sucht, muss erst beweisen, dass er es an Tatkraft, Überzeugungsvermögen und patriotischem Eifer mit ihm aufnehmen kann.«
Noch mehr Applaus; einige Mitglieder erhoben sich von ihren Sitzen. Beifallsrufe für Danton wurden laut; auf seine Bank gefläzt, nahm er sie entgegen, krawattenlos, unrasiert. Dann Beifallsrufe für Robespierre, der sich die Manschetten zurechtzupfte – ein weltliches Kreuzeszeichen gleichsam –, seinen Bewunderern zunickte und den Club mit seinem zurückhaltenden Lächeln bedachte. Beifall auch für Bürger Camille, vielleicht einfach dafür, dass es ihn gab. So sollte das Leben immer sein! Endlich wieder im Mittelpunkt, der Liebling der Revolution, das enfant terrible , dessen sämtliche Launen geduldet werden! Irgendwo in den Bänken lauerte im Zweifel der Geigenbauer Renaudin mit seiner todbringenden Rechten, aber für den Augenblick drohte die einzige Gefahr von
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