Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Gefühle, und dann blutet man und weiß, es ist nicht so. Eine Woche, vierzehn Tage der eigenen Lebenszeit sind verstrichen, ein neues Leben ist in Betracht gezogen worden, ein steter Strom von Liebe hat zu fließen begonnen, vom Kopf in den Körper und hinaus in die Welt und die kommenden Jahre. In Gedanken existiert das Kind weiter. Hätte es blaue Augen gehabt? Wie wäre sein Charakter gewesen?
Der Tag war gekommen. Annette saß vor ihrer Frisierkommode. Ihre Zofe machte sich an ihr zu schaffen, zupfte und zog ihr Haar zurecht. »Nicht so«, sagte Annette. »So mag ich es nicht. Da sehe ich älter aus, als ich bin.«
»Aber nein!«, widersprach die Zofe mit gespieltem Entsetzen. »Keinen Tag älter als achtunddreißig.«
»Achtunddreißig gefällt mir nicht«, sagte Annette. »Ich ziehe eine schöne runde Zahl vor. Sagen wir, fünfunddreißig.«
»Vierzig ist auch eine schöne runde Zahl.«
Annette trank einen Schluck von ihrem Apfelessig. Sie zog eine Grimasse. »Ihr Besuch ist da«, sagte die Zofe.
Der Regen peitschte in Böen gegen das Fenster.
In einem anderen Zimmer schlug Annettes Tochter Lucile ihr neues Tagebuch auf. Wieder ein neuer Anfang. Roter Einband. Weißes Papier mit einem seidenen Schimmer. Ein Bändchen, um die Stelle zu markieren, an der sie gerade war.
»Anne Lucile Philippa Duplessis«, schrieb sie. Sie war gerade dabei, sich wieder einmal eine neue Handschrift anzugewöhnen. »Dies ist das Tagebuch von Lucile Duplessis, geboren 1770, gestorben ??. Band 3, 1786.«
»Derzeit«, schrieb sie, »denke ich oft darüber nach, wie es wohl wäre, eine Königin zu sein. Nicht unsere Königin, sondern eine tragischere Figur. Ich denke da an Maria I . Tudor – ›wenn ich einmal tot bin und man meinen Leichnam eröffnet, wird man Calais in mein Herz geschrieben finden.‹ Wenn ich, Lucile, tot wäre und man meinen Leichnam eröffnete, fände man Ennui in mein Herz geschrieben.
Aber eigentlich ist mir Maria Stuart lieber. Sie ist eindeutig meine Lieblingskönigin. Ich denke an ihre blendende Schönheit dort bei den schottischen Barbaren. Ich denke an die Mauern von Fotheringay, die sie wie die Wände eines Grabes umschlossen. Es ist ein Jammer, dass sie nicht jung gestorben ist. Es ist immer besser, wenn Leute jung sterben, dann bleibt ihre Aura erhalten, und man muss nicht daran denken, dass sie Rheuma oder einen Bauch bekommen haben könnten.«
Lucile ließ eine Zeile frei. Sie holte tief Luft, dann schrieb sie weiter.
»Ihren letzten Abend verbrachte sie damit, Briefe zu schreiben. Sie sandte einen Diamanten an Mendoza und einen an den spanischen König. Als die Siegel aufgebracht waren, saß sie mit offenen Augen da, während ihre Zofen beteten.
Um acht kam der Provost Marshal, um sie abzuholen. An ihrem Betpult las sie mit ruhiger Stimme die Sterbegebete. Angehörige ihres Hofstaates knieten nieder, als sie, ganz in Schwarz und mit einem beinernen Kruzifix in der beinfarbenen Hand, durch den Rittersaal schritt.
Dreihundert Menschen hatten sich versammelt, um sie sterben zu sehen. Zur allgemeinen Überraschung trat sie durch eine kleine Seitentür ein, ihre Miene war gefasst. Das Schafott war mit schwarzem Stoff behängt. Ein schwarzes Kissen lag bereit, auf dem sie niederknien sollte. Doch als ihre Dienerinnen vortraten und ihr den schwarzen Umhang von den Schultern nahmen, sahen alle, dass sie in Scharlachrot gekleidet war. Sie hatte sich in der Farbe des Blutes gewandet.«
An dieser Stelle legte Lucile den Federhalter ab. Sie begann über Synonyme nachzudenken. Zinnoberrot. Feuerrot. Blutrot. Redewendungen fielen ihr ein: den roten Teppich ausrollen. Keinen roten Heller mehr haben. Heute rot, morgen tot.
Sie griff wieder nach dem Federhalter.
»Was dachte sie, als sie den Kopf auf den Block legte? Während sie wartete, bis der Henker in Stellung gegangen war? Sekunden verstrichen, und diese Sekunden waren wie Jahre.
Der erste Beilhieb ging auf Marias Hinterkopf nieder. Auch der zweite trennte den Kopf nicht vom Hals, bedeckte die Richtbühne aber mit königlichem Blut. Erst beim dritten Schlag rollte der Kopf. Der Henker hob ihn auf und hielt ihn für die Zuschauer hoch. Alle sahen, dass sich die Lippen noch bewegten, und das taten sie noch eine Viertelstunde lang.
Wer da allerdings mit einer Taschenuhr neben dem triefenden Überrest stand, ist mir nicht ganz klar.«
Ihre Schwester Adèle kam herein. »Schreibst du Tagebuch? Darf ich es lesen?«
»Ja. Und: nein.«
»Ach
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