Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
immer mit der Kutsche. Vielleicht hatte sie Angst, sie könnte zufällig Camille begegnen. Ihr Gesicht war angespannt, wirkte gealtert.
Es wurde Mai; lange, helle Abende und kurze Nächte. Mehr als einmal arbeitete Claude die Nacht durch, versuchte den Vorschlägen des neuen Generalkontrolleurs der Finanzen einen Anschein von Neuheit zu verleihen. Aber das Parlament ließ sich nicht irremachen; es ging wieder einmal um die Grundsteuer. Wenn sich das Parlament von Paris halsstarrig zeigte, behalf sich der König üblicherweise damit, es in die Provinz zu verbannen. Dieses Jahr schickte er es nach Troyes; jedes Mitglied wurde mit einem eigenen lettre de cachet dort hinbeordert. Spannend für Troyes, sagte Georges-Jacques d’Anton.
Am 14. Juni heiratete er Gabrielle in der Kirche von Saint-Germain l’Auxerrois. Sie war vierundzwanzig Jahre alt; während sie geduldig darauf gewartet hatte, dass ihr Vater und ihr Verlobter sich einigten, hatte sie ihre Nachmittage in der Küche verbracht, experimentiert und ihre Kreationen dann selbst verspeist; sie hatte Schokolade und Sahne für sich entdeckt und gab oft gedankenverloren löffelweise Zucker in den guten Kaffee ihres Vaters. Sie kicherte, als ihre Mutter sie in ihr Hochzeitskleid zwängte, und stellte sich vor, wie es sein würde, wenn ihr Frischangetrauter es ihr wieder abstreifte. Eine neue Lebensphase begann. Während sie in die Sonne hinaustrat, enger bei Georges eingehängt, als die Konvention es verlangte, dachte sie, jetzt bin ich sicher aufgehoben, mein Leben liegt vor mir, ich weiß genau, wie es aussehen wird, und ich würde es nicht anders haben wollen, selbst wenn ich Königin werden könnte. Sie errötete zart angesichts dieser frohen, etwas rührseligen Gedanken; die vielen Süßigkeiten haben mein Gehirn aufgeweicht, dachte sie und lächelte zugleich ihre Hochzeitsgäste in der Sonne an, spürte die Wärme ihres eigenen Körpers in dem engen Kleid. Nein, die Königin wäre sie wirklich nicht gern, sie hatte sie bei einem Umzug auf der Straße gesehen, ihre Miene starr vor Dummheit und hilfloser Verachtung, die hartkantigen Diamanten blitzend wie blanke Klingen.
Wie sich herausstellte, lag die Wohnung, die sie gemietet hatten, zu nah an Les Halles. »Ach, mir gefällt sie«, sagte sie. »Das Einzige, was mich stört, sind die Schweine, die auf den Straßen herumrennen und so wild aussehen.« Sie grinste ihn an. »Dir machen sie vermutlich nichts aus.«
»Schweinchen«, sagte er. »Nicht der Rede wert. Aber du hast recht, wir hätten die Nachteile sehen müssen.«
»Ach, die Wohnung ist schön. Ich bin glücklich hier, mal abgesehen von den Schweinen und dem Schlamm und der derben Sprache der Marktfrauen. Und wenn wir erst mal mehr Geld haben, können wir ja umziehen – da du jetzt königlicher Rat bist, wird das wohl nicht allzu lange dauern.«
Sie hatte natürlich keine Ahnung von den Schulden. Er hatte es ihr eigentlich sagen wollen, sobald sie etwas zur Ruhe gekommen waren. Doch sie kamen nicht zur Ruhe, denn sie war schwanger – offenbar von der Hochzeitsnacht – und flitzte euphorisch, unbekümmert, herumalbernd zwischen dem Café und ihrer Wohnung hin und her, den Kopf voller Pläne und schöner Aussichten. Nun da er sie besser kannte, wusste er, dass sie genauso war, wie er geglaubt und gehofft hatte: naiv, konventionell, mit einer frommen Ader. Es wäre grausam gewesen, geradezu kriminell, ihr Glück zu überschatten. Der Moment, da er es ihr hätte sagen können, kam, verstrich, verschwand in der Ferne. Die Schwangerschaft stand ihr gut: Ihre Haut schimmerte, ihr Haar wurde kräftiger, sie war üppig, opulent, fast exotisch und oft außer Atem. Eine Welle des Optimismus riss sie beide mit und trug sie in den Sommer.
»Maître d’Anton, dürfte ich Sie einen Augenblick aufhalten?« Sie standen vor dem Gerichtsgebäude. D’Anton wandte sich um. Hérault de Séchelles, Richter, ein Mann seines Alters; außerordentlich aristokratisch, außerordentlich reich. Schau an, dachte Georges-Jacques – wir steigen auf in dieser Welt.
»Ich wollte Ihnen meine Glückwünsche zu Ihrem neuen Amt als königlicher Rat aussprechen. Sie haben sehr gut gesprochen.« D’Anton neigte den Kopf. »Waren Sie heute Vormittag bei Gericht?«
D’Anton hielt eine Aktenmappe hoch. »Der Marquis de Chayla. Ich weise nach, dass er das Recht hat, den Titel Marquis zu führen.«
»Im Geiste hast du es offenbar bereits nachgewiesen«, murmelte Camille.
»Ach,
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