Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
sie Camille einen Monat lang nicht mehr gesehen hatte, begann sie ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen zu reduzieren und die Abende allein zu verbringen, ihre Lage hin und her zu wenden wie ein Hund seinen Knochen.
Schlimm genug, als verführt zu gelten. Schlimmer noch, als verlassen zu gelten. Und wegen der eigenen jugendlichen Tochter verlassen zu werden? Zutiefst entwürdigend.
Seit der König seinen Minister Calonne entlassen hatte, war Claude abends immer im Büro und setzte Memoranden auf.
In der ersten Nacht hatte Annette nicht geschlafen. Sie hatte sich bis in die frühen Morgenstunden hin und her gewälzt und Rachepläne geschmiedet. Sie dachte daran, ihn irgendwie zu zwingen, Paris zu verlassen. Um vier Uhr früh hielt es sie schließlich nicht mehr im Bett. Sie stand auf, legte sich ein Tuch um die Schultern und ging im Dunkeln durch die Wohnung, barfuß wie eine Büßerin, um nur ja niemanden zu wecken, das Dienstmädchen etwa oder ihre Tochter – die zweifellos den keuschen und friedlichen Schlaf der emotionalen Despotin schlief. Als der Tag anbrach, stand sie fröstelnd an einem offenen Fenster. Ihre Entschlossenheit kam ihr jetzt vor wie eine Fiktion oder ein Alptraum, eine monströse, groteske Fantasie, die jemand anders ersonnen hatte. Komm, sagte sie sich, es war ein Zwischenfall, mehr nicht. Doch ihre Trauer, das Gefühl des Verlusts waren unverändert.
Lucile begegnete ihr in diesen Tagen misstrauisch, sie wusste nicht, was im Kopf ihrer Mutter vorging. Sie hatten aufgehört, in irgendeinem relevanten Sinn miteinander zu reden. Wenn andere Leute dabei waren, gelang es ihnen, ein paar nichtssagende Sätze auszutauschen; allein miteinander, waren sie beide verlegen.
LUCILE : Sie verbrachte so viel Zeit wie möglich allein. Las zum zweiten Mal La Nouvelle Heloïse . Beim ersten Mal, ein Jahr war das her, hatte Camille ihr erzählt, er habe einen Freund – ein seltsamer Name, irgendetwas mit R am Anfang –, der das Buch für das Meisterwerk ihrer Epoche hielt. Sein Freund sei ein ausgesprochener Gefühlsmensch; sie würden sicher gut miteinander auskommen, wenn sie sich einmal begegneten. Sie begriff, dass er selbst nicht viel von dem Buch hielt und ihr Urteil ein wenig beeinflussen wollte. Sie erinnerte sich daran, wie er sich mit ihrer Mutter über Rousseaus Bekenntnisse unterhalten hatte, noch so ein Buch, das ihr Vater ihr nicht zu lesen erlaubte. Camille sagte, dem Autor fehle jedes Feingefühl, manche Dinge bringe man besser nicht zu Papier; seit damals achtete sie mehr darauf, was sie in ihr rotes Tagebuch schrieb. Sie wusste noch, dass ihre Mutter gelacht und gesagt hatte, man kann also tun, was man will, solange man ein gewisses Feingefühl an den Tag legt? Camille hatte daraufhin eine fast unhörbare Bemerkung gemacht, irgendetwas über die Ästhetik der Sünde, woraufhin ihre Mutter abermals gelacht, sich vorgebeugt und sein Haar berührt hatte. Schon damals hätte sie es wissen müssen.
An solche Vorkommnisse erinnerte sie sich dieser Tage öfter, wendete sie hin und her, nahm sie auseinander. Ihre Mutter schien abzustreiten – sofern man überhaupt verstehen konnte, was sie sagte –, dass sie jemals mit Camille im Bett gewesen war. Sie vermutete, dass ihre Mutter log.
Annette war recht freundlich zu ihr gewesen, wenn man die Umstände bedachte. Sie hatte ihr irgendwann einmal gesagt, dass die Zeit fast jedes Problem löse, ohne dass man etwas dafür tun müsse. Lucile fand diese Einstellung rückgratlos. Irgendjemandem wird wehgetan werden, dachte sie, aber ich gewinne in jedem Fall. Ich bin jetzt wichtig, meine Handlungen ziehen Folgen nach sich.
Sie spielte die entscheidende Szene noch einmal durch. Ein paar späte, zaghafte Sonnenstrahlen nach dem Sturm hatten ein loses, ungepudertes Haar im Nacken ihrer Mutter mit Glanz überzogen. Seine Hände hatten zutraulich ihre Taille umfasst. Als Annette herumwirbelte, schien ihr ganzes Gesicht in sich zusammenzufallen, als hätte jemand sie hart geschlagen. Camille hatte andeutungsweise gelächelt; das fand sie seltsam. Einen Augenblick lang hatte er das Handgelenk ihrer Mutter festgehalten, wie um sie für einen anderen Tag zu reservieren.
Und dieser Schock, dieser furchtbare Schock – wobei sie sich fragte, warum es ein Schock gewesen war, wo sie doch, Details einmal beiseitegelassen, genau das gesehen hatte, was Adèle und sie zu sehen gehofft hatten.
Ihre Mutter verließ nur selten das Haus, und wenn, dann fuhr sie
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